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Chronik eines Tales

20.10.2023 – Beat Mazenauer

Das Tessin hat sich in den letzten Hundert Jahren wie keine andere Region in der Schweiz gewandelt. Aus dem Armenhaus von einst ist ein Touristenhotspot geworden. Diese Kluft ruft uns Plinio Martini in «Nicht Anfang und nicht Ende» («Il fondo del sacco», 1970) dramatisch in Erinnerung. Das Buch ist soeben neu auf Deutsch erschienen. Es spielt Ende der 1920er-Jahre in Martinis Heimatregion, dem Val Bavona, einem wildschönen Seitental der Maggia.

Weil es an Arbeit fehlt, die Familien aber gross sind, blieb jungen Männern oft nichts anderes als die Auswanderung. Viele von ihnen sangen: «America, America, America, / in America voglio andar!» Doch nicht allen im Tal war es wohl dabei. Speziell die Älteren befürchteten, dass ihre Kinder nie mehr zurückkehren würden, weil sie in der Fremde Erfolg hatten oder weil sie scheiterten und daher die Heimkehr scheuten. Unter den Emigranten ist auch Martinis Erzähler Gori Valdi. Er unterzeichnete den Vertrag, bevor er und Maddalena sich einander ihre Liebe zu gestehen wagten. So verlässt er die Heimat in betrübter Stimmung.

Plinio Martini: «Nicht Anfang und nicht Ende». Aus dem Italienischen von Trude Fein. Limmat-Verlag, Zürich 2023, 240 Seiten, 32 Franken.

18 Jahre später kehrt Gori zurück. Maddalena ist kurz nach seiner Abreise verstorben. Er ist in Amerika zwar zu Geld gekommen, dafür hat er alle Illusionen verloren. Aus seiner Optik erzählt Plinio Martini, der zeitlebens im Tal geblieben ist, von den ärmlichen Verhältnissen im Val Bavona. Anschaulich, präzise und ohne Beschönigung schildert er die Not, immer untermalt von einer leisen Sehnsucht genau danach.

Denn zur Armut gehörten auch gute Nachbarn und melancholische Lieder, die Gori in Amerika vermisst hat. Nun zurückgekehrt, erscheint ihm die Gegenwart schal. Gleich anfangs hält er fest: «Ich verfluche noch heute das Bähnchen, das mich forttrug.» Eine tiefe Trauer umfängt seine Erzählung, die der Suche nach einer verlorenen Zeit gleicht. «Ich begann zu begreifen, dass das Glück aus einem Nichts besteht und dass ich just dieses Nichts, das den Menschen glücklich macht, verloren hatte.»

Martinis Roman ist eine wunderbare, sehnsuchtsvolle Erzählung, ein süsses Liebesdrama auch, vor allem aber ist er ein grossartiges Zeitzeugnis. Das Buch steckt voll wunderbarer Charaktere, lebhafter Geschichten und wechselhafter Schicksale, die «sich fast alle tatsächlich ereignet haben». Er, der Verfasser, habe sie nur kraft seiner Fantasie etwas verändert.

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