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Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey | «Liberté!» als Egotrip

24.03.2023 – SUSANNE WENGER

«Gebt Bill Gates keine Chance!», «Nein zu Zwangsimpfungen! «Liberté! Schluss mit der Corona-Diktatur!» Solche von Verschwörungstheorien durchsetzte Parolen waren 2020 und 2021 auch in der Schweiz an Demonstrationen gegen die Pandemie-Massnahmen zu vernehmen. Und wie andernorts fiel die durchmischte Zusammensetzung der Kundgebungen auf. Althippies, Yoga-Lehrerinnen und eine grünalternative linke Lokalpolitikerin marschierten neben patriotischen Freiheitstrychlern und deklarierten Rechtsaussen.

CAROLIN AMLINGER, OLIVER NACHTWEY, «Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus» (in Deutsch), Suhrkamp Verlag, 2022. 480 Seiten, CHF 42.90, E-Book CHF 30.–

Die Pandemie machte ein Phänomen sichtbar, das sich herkömmlicher politischer Einordnung entzieht. Als «Querdenker» verstehen sich denn auch viele, die an den Corona-Protesten teilnahmen. Nicht nur gesundheitspolitisch denken sie quer, auch bei anderen Themen vom Ukraine-Krieg bis zum Klimawandel. Sie wenden sich gegen «Medien-Mainstream», etablierte Wissenschaft und sinistre Eliten, die die Leute angeblich gängeln wollen, wobei Behörden und globale Unternehmen unter einer Decke steckten. Manche sehen sich als «erwacht».

Was passiert da gerade in der Gesellschaft? Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey – beide lehren an der Universität Basel – begannen dem noch während der Pandemie nachzugehen. Für ihr Ende 2022 erschienenes Sachbuch «Gekränkte Freiheit» befragten sie über tausend Personen aus der Querdenker-Szene in Deutschland und der Schweiz, mit einigen Dutzend sprachen sie ausführlich. Sie beobachteten Corona-Demos und arbeiteten sich durch Social-Media-Kanäle. Als Fazit beschreiben sie einen ganz neuen Protesttyp: den libertären Autoritarismus.

Nicht dass Querdenker sich nach Führerfiguren sehnen. «Viele von ihnen vertreten in der Lebensführung eher antiautoritäre Positionen», heisst es im Buch. Was da ins Autoritäre kippe, sei die individuelle Freiheit. Diese werde absolut gesetzt und radikal bis aggressiv-illiberal verteidigt. Anders als in bisherigen Freiheitskämpfen betrachteten Querdenker die Freiheit nicht als geteilten gesellschaftlichen Zustand. Freiheit sei für sie vielmehr ein persönlicher Besitzstand, gesellschaftliche Abhängigkeiten würden negiert.

Freiheit als Egotrip also, angetrieben von einem spätmodernen Gefühl der Ohnmacht, wie Amlinger und Nachtwey weiter analysieren. Das spätmoderne Individuum sei «äusserst kränkungsanfällig», wenn es seine Ansprüche auf Selbstentfaltung nicht realisieren könne. Doch was tun, damit nicht noch mehr vom Gemeinwesen wegdriften? Freiheit sollte «als etwas zutiefst Soziales» begriffen und vermittelt werden, so tönen es die Autorin und der Autor in ihrem aufschlussreichen Buch an.

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