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  • Literaturserie

Ein Utopist, der seiner Zeit ein Jahrhundert voraus war

20.10.2023 – Charles Linsmayer

Jakob Vetschs utopischer Roman «Die Sonnenstadt» nahm 1923 vieles vorweg, was heute mit höchster Dringlichkeit gefordert wird.

1923 erschien in Zürich ein Buch mit dem Titel «Die Sonnenstadt. Ein Roman aus der Zukunft für die Gegenwart». Verfasser war ein gewisser «Mundus», der sich am Ende des Vorworts als «Dr. jur. & phil. J. Vetsch» zu erkennen gab, «um der ersehnten Sammlung Gleichgesinnter sofort einen vorläufigen Mittelpunkt zu geben». 1879 in Nesslau (SG) geboren, hatte Jakob Vetsch Germanistik und Jurisprudenz studiert und war 1916 Sekretär des Schweizerischen Bierbrauer-Vereins geworden. 1918 hatte er die Tochter eines Brauerei-Grossaktionärs geheiratet.

 

Jakob Vetsch (1879–1942)

Und es wäre ihm, wie er sarkastisch formulierte, «ein ehrenvoller und schöner Lebensabend in glücklichem Familienkreis, vergoldet von gut bezahlten Verwaltungsratsstellen, in sicherer Aussicht» gestanden, hätte er sich mit seinem Roman nicht um all dies gebracht. Die Lehrer, Politiker und Pfarrer, denen Vetsch sein Buch schenkte, staunten jedenfalls nicht schlecht, mit welcher ohnmächtigen Wut der Sachwalter eines Unternehmerverbandes nun über die kapitalistische Wirtschaft herfiel. Sie konnten ja nicht wissen, dass Vetsch von seinem künftigen Schwiegervater mit einer Million Franken «Abfindung» dazu gebracht worden war, dessen erbkranke Tochter zu heiraten und mit ihr ein – ebenfalls behindertes – Kind zu zeugen...

«Da standen Männer auf, denen die Not der Welt schier das Herz abdrückte. Und sie erkannten das entscheidende Hindernis für eine Weltverbrüderung und nannten es beim Namen: das Geld und der Kapitalismus. Und sie verkündeten es ohne Scheu, selbst auf die Gefahr hin, als Kommunisten gebrandmarkt zu werden. Sie erhoben sich in allen Teilen der Erde, und die Einheit der Welt und der Menschen drängte sich ihnen auf. Daher nannten sie sich und ihre Anhänger ‹Mundisten›, und ihr Ziel war der Weltstaat und die Weltverwaltung.»
(Aus: Jakob Vetsch, «Die Sonnenstadt», zuletzt Ex-Libris-Verlag, Zürich, vergriffen)

Eine urbanistische Welt-Utopie

Vetschs Mundismus ist eine Welt-Utopie unter urbanistischem Vorzeichen. 2100 ist die Erde in die fünf «Länder» Europa, Asien, Amerika, Afrika und Australien beziehungsweise in 25 000 Städte aufgeteilt. Regiert werden die «Länder» von je 20 Weisen und einem Landesvater, während die Weltregierung aus 50 «Länder»-Abgeordneten besteht. Die Sonnenstadt Zürich ist der Schauplatz des Romans und der Ort, wo das sonnenstaatliche Leben am Beispiel einer Liebesgeschichte vorgeführt wird. Das Geld ist abgeschafft, was jeder braucht, steht ihm zu. Alle sind jahrzehntelang «Student», vergelten dieses Privileg aber damit, dass sie temporär Arbeiten verrichten, die als Lebensarbeit niemandem zugemutet werden können. Die Sexualität ist vom Zwang der Ehe gelöst, Geburtenkontrolle und Empfängnisverhütung sind staatlich organisiert, die Ehe kann nach fünf Jahren gelöst werden. Der Beruf nimmt 25 Wochenstunden in Anspruch, die übrige Zeit dient der – künstlerischen – Weiterbildung. Weltweit hat der Naturschutz in den von der Zersiedlung befreiten Landschaften erste Priorität, und die Unmengen benötigter Elektrizität werden durch Wasser-, Sonnen-, Wind- und Gezeitenkraftwerke erzeugt. Und die Emanzipation ist auf eine Weise realisiert, bei der auch der Frau, ob sie Mutter wird oder nicht, «die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit» garantiert ist.

Am Ende ein totales Fiasko

«Die Sonnenstadt» war eine Art Evangelium, aber der Mundismus fand keinen einzigen Jünger. Die 40 000 versandten Bücher lösten eine gehässige Pressekampagne aus, und 1924 musste Vetsch Konkurs anmelden. Als die Familie seiner Frau ihn als geistesgestört internieren lassen wollte, sagte er sich von seiner Lehre los und lebte, ohne je wieder eine Zeile zu publizieren, in Liechtenstein und ab 1934 in Oberägeri, wo er Gemeindepräsident war, als er 1942 starb. «Ein Volk ohne Kuriose gleicht einer Suppe ohne Salz», kommentierte Walter Robert Corti, Gründer des PestalozziKinderdorfes Trogen, Vetschs Schicksal, «sie leiden mehr als die Normalen, aber aus ihren Visionen ist immer zu lernen.»

 

CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH

 

BIBLIOGRAFIE: «Die Sonnenstadt» erschien zum letzten Mal 1982 in der Ex-Libris-Edition «Frühling der Gegenwart». Antiquarisch sind noch einzelne Exemplare erhältlich.

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