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  • Literaturserie

«Ein Liebeskummer von vorsintflutlicher Tiefe»

08.12.2023 – Charles Linsmayer

Der einzige Roman der 1943 mit 21 Jahren verstorbenen Baslerin Lore Berger löst vor allem bei Frauen nach wie vor Bestürzung und Bewunderung aus.

Am 13. August 2023 versammelten sich zwanzig deutschsprachige Schweizer Schriftstellerinnen beim Wasserturm über dem Basler Stadtquartier Bruderholz und lasen im Turnus von der oberen Plattform des Turmes aus einem Roman von einer Autorin vor, die sich durch einen Sturz von eben diesem Wasserturm umgebracht hatte, bevor eine von ihnen geboren war.

Wir blenden 80 Jahre zurück: Unter den Einsendungen, welche die Jury für die Vergabe des BüchergildeRoman-Preises 1943 beurteilte, fand sich ein Manuskript mit dem Titel «Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas». Die Jury hätte den Text wohl stillschweigend weggelegt, wäre sie nicht informiert worden, dass sich hinter der anonymen Einsenderin die 1921 geborene Basler Gymnasiallehrertochter Lore Berger verbarg, die am 14. August jenes Jahres mit ihrem tödlichen Sturz vom Wasserturm auf dem Bruderholz einen Skandal ausgelöst hatte. Obwohl das Buch zu den traurigen Texten gehörte, die man den Menschen mitten im Krieg lieber nicht zumuten wollte, sprach ihm die Jury Rang fünf zu, so dass es im Herbst 1944 gedruckt erschien.

Lore Berger hatte drei Semester Germanistik studiert und eine Serie Kindergeschichten publiziert. Aber niemand hatte eine Ahnung, dass sie im Frauenhilfsdienst der Schweizer Armee beim Territorialgericht 2B zwischen Februar 1942 und Juni 1943 auf die Rückseite von Gerichtsprotokollen heimlich einen Roman geschrieben hatte. 250 Seiten, auf denen sie eine gescheiterte Romanze, ihre – ursächlich damit zusammenhängende – Magersucht und das Basler Gesellschafts- und Studentenleben der ersten Kriegsjahre teils lyrisch-poetisch, teils ironisch-sarkastisch, auf jeden Fall aber literarisch gekonnt umsetzte. Dass der treulose Liebhaber der Grund für Lore Bergers Suizid gewesen sein könnte, ist aber eher unwahrscheinlich. Zu ihrem Todeswunsch führten wohl eher die Erfahrung einer dumpfen, unfreien Zeit, der Mangel an Verständnis im Elternhaus, eine qualvolle Einsamkeit und die vorenthaltene Gleichberechtigung als Frau.

«Man kann ein Buch aus verschiedenen Gründen schreiben, aus Eitelkeit, Armut oder innerer Berufung. Ich selbst verweise für meine Person auf den Sinn eines Satzes, den ich irgendwo aufgeschnappt habe: Eine Tänzerin tanzt, der Künstler schafft und formt, der Musiker spielt oder setzt Noten: Und dies hat seinen Grund darin, dass sie alle eine Spannung in sich tragen, von der sie befreit sein möchten. Sagen, Tanzen, Schaffen ist eine Erlösung. Indes dein Lied zum andern geht und er darum weiss, wird etwas in dir frei»
Aus: Lore Berger, «Der barmherzige Hügel», Th.Gut Verlag, Zürich 2018

Dass sie dies alles ihre Romanfigur Esther nach dem Rückzug von deren Freund Thomas als einen «Liebeskummer von vorsintflutlicher Tiefe» erleben lassen konnte, hängt ganz klar mit der Todessymbolik des Turmes und der im Sinne einer Erlösung von irdischer Mühsal zu verstehenden Rolle des barmherzigen Hügels, des Basler Bruderholz-Hügels, zusammen.

Bis zum Schluss bleibt dieser Turm der Mittelpunkt einer – längst gescheiterten – Liebe, die zuletzt nur noch in der Fantasie und im Traum verwirklicht werden kann. Überhaupt liegt die Stärke des Textes letztlich in der innigen poetischen Kraft, mit der die Landschaft auf dem Bruderholz mit der Liebesgeschichte in Beziehung gesetzt wird. Eine Kraft, die bereits im Vorwort des Buches wirksam ist und bis in die letzten Seiten hinein spürbar bleibt: «Menschen schreien wie andernorts und härmen sich um ihre verlorene Glückseligkeit. Aber das sollst du nicht achten. Du sollst nur dem langsamen Wellen und Wogen eines Getreidefeldes folgen und begreifen, dass sich das schön ausnimmt vor dem Weinen eines müden, kranken Gesichts. Und du sollst begreifen, dass in dieser weiten, gelassenen Landschaft für dich eine Heimat ist, und dass da eine Barmherzigkeit liegt, von der du ein Leben lang hast reden hören und die du nie geglaubt hast.»

Die Marathon-Lesung der zwanzig Autorinnen am Ort von Lore Bergers Tod hat erneut gezeigt, dass das einzige Buch dieser jung verstorbenen Autorin der Zeit standgehalten hat und ihr Hilfeschrei auch Generationen später noch immer Betroffenheit auslöst.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich

Bibliografie

Lore Berger: «Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas». Ergänzt um Fragmente aus dem Journal intime der Autorin.» Reprinted by Huber Nr. 35, Th. Gut-Verlag, Zürich, 2018.

 

 

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