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Jon Mathieu | «Die Heimat ist ein heikles Thema, wenn jemand sie von aussen zur Disposition stellt»

03.10.2025 – Interview: Theodora Peter

Der Historiker, Ethnologe und Gebirgsforscher Jon Mathieu über die gesellschaftlichen Folgen von Naturkatastrophen und die Identität der Schweiz als Alpenland.

Der Bergsturz von Blatten hat die Menschen im Lötschental zusammengeschweisst. Gilt das auch für die Schweiz?

Jon Mathieu: «Zusammenschweissen» ist für die Schweiz wohl zu stark ausgedrückt. Der Bergsturz löste aber eindeutig eine nationale Solidarisierungswelle aus. Besonders berührend waren die Unterstützungsbeiträge, die aus vielen kleinen Gemeinden kamen. Sie wären nicht wirklich verpflichtet gewesen, die Lötschentalerinnen und Lötschentaler zu unterstützen, aber sie haben es getan. Die Präsidentin des Nationalrats nahm dieses Grundgefühl auf und eröffnete die Sommersession mit einer kurzen Ansprache über die Katastrophe unter dem Titel «Gemeinsam für Blatten – ein Land steht zusammen».

Jon Mathieu (*1952) ist emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Luzern. 2000 war er Gründungsdirektor des heutigen Laboratoria di Storia delle Alpi an der Università della Svizzera italiana. Foto ZVG

Weshalb lösen Naturkatastrophen ein solches Wir-Gefühl aus?

Empathie und das Gefühl der Zusammengehörigkeit: In schweren Momenten steht man sich bei. Das heisst nicht, dass jetzt alle ein Herz und eine Seele sind, im nächsten Moment kann der Kampf um einen Platz an der Sonne weitergehen. Doch zunächst ist man betroffen, und will etwas tun. Dies lässt sich in der Geschichte mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Im konfessionellen Zeitalter verteilte man seine «Liebesgaben» in Form von Geld und Naturalien in erster Linie an Glaubensbrüder, mit der Nationenbildung dann an die Miteidgenossen beiderlei Geschlechts. Der bekannte Auftakt für diese Phase bildete der Bergsturz von Goldau 1806. Der historisch neue «Landammann der Schweiz» erliess einen entsprechenden Aufruf, und die Leute begannen zu ahnen, dass sich seit der «Alten Eidgenossenschaft» etwas geändert hatte.

Inwiefern gehört das Bild der Alpen-Schweiz zur Identität des Landes? Hat sich dieses Bild im Laufe der Zeit verändert?

Erste Ansätze zu einer Alpen-Identität der Eidgenossenschaft gab es im 16. Jahrhundert, als einige Chronisten von einem «Alpenvolk» sprachen, auch um zu betonen, dass sie nicht zu stark zum Heiligen römischen Reich deutscher Nation gehören wollten. Wichtig wurde diese Identität aber erst im späten 19. Jahrhundert, etwa mit der Eröffnung der Gotthard-Bahn 1882. Sie war ein Stolz des neu zusammengerückten Bundesstaats und signalisierte der ganzen – westlichen – Welt, dass es hier Berge gibt. Intensiv zelebriert wurde das alpine Selbstbild dann in den Landesausstellungen von 1914 in Bern und 1939 in Zürich. Zufällig öffneten beide Ausstellungen ihre Tore kurz vor den Weltkriegen, die das Land in eine schwierige Situation brachten. Seit den 1960er-Jahren ist diese Identifikation mit den Alpen innenpolitisch rückläufig, international gilt die Schweiz aber weiterhin als Bergland.

Der Bergsturz von Goldau 1806 beförderte den Geist der nationalen Solidarität. Nach der Katastrophe kam es erstmals zu einer landesweiten Spendensammlung. Bild Keystone

Darf man beim Schutz vor Naturgefahren die Kosten-Nutzen-Frage stellen – oder gar darüber nachdenken, bisher bewohnte Bergtäler aufzugeben?

Man darf alles, läuft aber Gefahr, dass diese Frage auf schlechte Resonanz seitens der Einheimischen stösst. Sie werden antworten, man habe auch nicht darüber diskutiert, ob man Basel aufgeben soll, als es dort ein Erdbeben gab, oder ob man Zürich und Bern evakuieren soll, als es dort zu Überschwemmungen kam. Die Heimat ist ein heikles Thema, wenn jemand sie ungefragt von aussen zur Disposition stellt. Ausserdem sind viele regionale Kosten-Nutzen-Theorien ziemlich laienhaft gemacht und vorurteilsbeladen. Eine wissen­schaftliche Analyse dieser komplexen Frage über eine längere Zeit gibt es bisher nicht.

www.labisalp.usi.ch

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