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  • Gesellschaft

Der «Handel mit Babys» überschattet viele Adoptionen

03.10.2025 – Eveline Rutz

Der Bundesrat will Schweizer Eltern verbieten, im Ausland Kinder zu adoptieren. Nur so liessen sich illegale Praktiken verhindern, argumentiert er. Die Idee löst eine emotionale Debatte aus.

Als Chance auf ein besseres Leben: So wurden Adoptionen in der Schweiz ab den 1950er-Jahren verstanden. Sie galten als humanitären Akt. Erst recht, wenn das Kind aus einem armen Land und scheinbar prekären Verhältnissen stammte. Diese durchwegs positive Wahrnehmung habe sich interessanterweise lange gehalten, sagt Andrea Abraham, Professorin an der Berner Fachhochschule (BFH). Berichte über fragwürdige Umstände hätten den öffentlichen Diskurs kaum beeinflusst. Anders als in anderen Staaten sei in der Schweiz selbst die Wissenschaft erst vor wenigen Jahren auf das Thema aufmerksam geworden: «Bei einer für die betroffenen Kinder derart einschneidenden Massnahme ist das doch erstaunlich.»

Sarah Ineichen machte irreguläre Adoptionen zum breit debattierten Thema. Sie ist persönlich betroffen: «Bis heute weiss ich nicht, wer meine biologische Mutter ist.» Foto Keystone

«Der Schmerz wird bleiben»

Dass internationale Adoptionen heute kritisch diskutiert werden, ist massgeblich Sarah Ineichen zu verdanken. Sie kam 1981 als Baby aus Sri Lanka in den Kanton Nidwalden. Als sie sich – längst erwachsen – mit ihren Wurzeln beschäftigte, musste sie feststellen, dass die Angaben zu ihrer Herkunft nicht stimmten. Statt ihrer leiblichen Mutter stand sie an ihrem Geburtsort einer Frau gegenüber, die bloss ihren Namen für die benötigten Dokumente gegeben hatte. «Bis heute weiss ich nicht, wer meine biologische Mutter ist», sagt die 44-Jährige. Sie wisse nicht, warum und ob sie freiwillig weggegeben worden sei: «Dieser tiefe Schmerz wird mich bis zu meinem Tod begleiten.»

Als eine der Ersten gelangte Ineichen 2017 an die Öffentlichkeit, um irreguläre Umstände anzuprangern. Mit weiteren Betroffenen gründete sie den Verein «Back to the Roots». Neugeborene seien ihren Müttern entrissen und entwurzelt worden, sagt sie. Einigen Frauen sei im Spital gar ein totes Baby untergeschoben worden, um das gesunde Adoptiveltern übergeben zu können: «Es wurden Kinder für Eltern gesucht – und nicht umgekehrt.»

Behörden haben zu wenig kontrolliert

Dass sich der drängende Kinderwunsch westlicher Paare auf die Abwicklung internationaler Adoptionen auswirkte, belegen nicht nur die Untersuchungen von Andrea Abraham, sondern etliche weitere Forschungsprojekte. Sie dokumentieren für den Zeitraum von 1973 bis 2002 gesetzeswidrige Praktiken in elf Herkunftsländern. Sie berichten von Hinweisen auf Kinderhandel, gefälschten Papieren, fehlenden Einverständniserklärungen der leiblichen Mütter und von Schweizer Beamten, die wegschauten, wenn Gesetze systematisch missachtet wurden. Aus Sri Lanka sind in diesen Jahren rund 700, aus Indien rund 2280 Babys adoptiert worden. In beiden Staaten gab es Kinderheime und Frauenhäuser, die im grossen Stil an internationalen Vermittlungen mitwirkten.

Sie ermöglichten es werdenden Müttern, ihr Kind heimlich auszutragen und zu gebären. Sie betreuten insbesondere Schwangere, denen gesellschaftliche Ächtung drohte. Sei es, weil sie mittellos waren, keine Aussicht auf eine Heirat hatten oder vergewaltigt worden waren. Die Einrichtungen kümmerten sich häufig auch um die erforderlichen Dokumente und organisierten die Übergabe der Neugeborenen an Adoptiveltern, die meist aus privilegierteren Staaten stammten.

 

Adoptionen verlagerten sich ins Ausland

Ab 1973 reisten zunehmend Paare aus der Schweiz an. Aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen und Gesetzesänderungen konnten sich jene, welche ein Kind aufnehmen wollten, diesen Wunsch nun eher im Ausland erfüllen. Hinterfragt wurde dies kaum. So heisst es in einem Expertenbericht: «Ähnlich wie heute beim Thema der Reproduktionsmedizin gab es die gesellschaftlich akzeptierte Haltung, dass Adoptiveltern vom Grundsatz her ein Recht auf ein Kind hatten.» Dieses Eigeninteresse liess sich mit dem bereits erwähnten Wohltätigkeitsgedanken legitimieren.

Der Bund und die Kantone stünden nun in der Verantwortung, sagt Sarah Ineichen. «Sie haben den Handel mit Babys über Jahrzehnte toleriert und gar ermöglicht.» Sie hätten die Kinder und deren leibliche Familien zu wenig vor Ausbeutung geschützt.

Unter den Folgen habe nun eine ganze Generation adoptierter Menschen zu leiden. «Wir erwarten eine Entschuldigung für das erfahrene Unrecht und eine zielgerichtete Unterstützung bei den Nachforschungen unserer Herkunft.» Um gefälschte Dokumente aufzuklären, seien beispielsweise DNA-Tests in den Herkunftsländern notwendig.

Nik Gugger wehrt sich gegen zu strikte Einschränkungen. In Indien geboren und von Schweizer Eltern adoptiert spricht er von Glück: Er sei dank der Adoption «in einer liebevollen Familie aufgewachsen». Foto Keystone

Betroffene müssen mit Leerstellen leben

Zu den ersten Lebenswochen unsichere, nebulöse oder sich als falsch entpuppende Informationen zu entdecken, sei äusserst belastend, sagt Andrea Abraham. Betroffene müssten mit Lücken in ihrer Biografie leben, was sich auf ihr Verständnis von Identität und Zugehörigkeit auswirke. «In der Schweiz leben Tausende Erwachsene, die bis heute Fragen haben.»

Der Bundesrat möchte internationale Adoptionen verbieten. «Anders lassen sich missbräuchliche Praktiken nicht vollständig verhindern», argumentiert Justizminister Beat Jans. Die Vorgänge in den Herkunftsstaaten zu kontrollieren, sei äusserst schwierig und aufwendig. Zwar seien – unter anderem mit dem Haager Adoptionsübereinkommen 2003 – bereits bedeutende Fortschritte erzielt worden. Dennoch stosse das System an Grenzen. Bis Ende 2026 will der Bundesrat seine Pläne konkretisieren. Ein Verbot könnte dann frühestens auf 2030 in Kraft treten.

Direktbetroffene widersprechen dem Bundesrat vehement. EVP-Nationalrat Nik Gugger ist als Kleinkind aus Indien adoptiert worden und sagt: «Ohne Auslandsadoption wäre ich wohl nie in einer liebevollen Familie aufgewachsen.» Um ein generelles Verbot zu verhindern, lancierte er eine Petition und trug innerhalb eines Monats über 10'000 Unterschriften zusammen. Mit dem Haager Abkommen seien bereits griffige Schutzvorschriften eingeführt worden, sagt Gugger. Daneben sollten hohe Anforderungen an die Herkunftsländer gestellt und eine kompetente Begleitung in der Schweiz gewährleistet werden. «Die Praktiken von einst sind nicht mehr möglich», sagt Stefan Müller-Altermatt, Vater eines Buben aus Armenien und Mitte-Nationalrat. Vollständige Dokumente und Transparenz seien heute zwingend.

Direktbetroffene wehren sich dagegen, stigmatisiert zu werden. Adoptivkindern werde signalisiert, dass sie eigentlich nicht hier sein sollten. Adoptiveltern werde unterstellt, etwas Verwerfliches getan zu haben. Das sei ungerecht und entspreche nicht der Realität. Ein Verbot werde vor allem Waisen und ausgesetzte Kinder hart treffen, warnen sie.

Für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer soll sich mit der Reform nichts ändern. «Sie können weiterhin nach dem Recht ihres Wohnsitzes adoptieren», sagt Joëlle Schickel-Küng vom Bundesamt für Justiz. Eine ausländische Adoption werde in der Schweiz grundsätzlich anerkannt, wenn sie im Staat des Wohnsitzes der adoptierenden Person erfolgt sei.

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Kommentare :

  • user
    Maurice de Coulon, Deutschland 30.10.2025 um 07:32
    Als Vater eines Adoptivsohnes aus Vietnam hat mich der Artikel über den Handel mit potentiellen Adoptivkinder aus dem Ausland auch sehr angesprochen. Zum „Glück“ gehört unser Sohn (gleiche Generation wie der ehemalige deutsche Vize-Kanzler Philip Rösler) zu den echt bedürftig gewesenen, noch vor Ende des Vietnamkrieges ausgesetzten Mischlingen, um deren Adoption sich die Organisation Terre des Hommes damals intensiv bemüht hat. Terre des Hommes hatte auch eine sehr professionelle Auswahl der adoptionswilligen Eltern eingerichtet, damit möglichst alle Voraussetzungen für eine gelingende Adoption und ein gelingendes Leben der Adoptierten in ihrer neuen Heimat erfolgen kann. Leider sind doch relativ viele Adoptionen in Deutschland nicht geglückt, weshalb Terre des Hommes Deutschland vor längerer Zeit die Vermittlung von Auslandsadoptionen ganz aufgegeben hat.
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