Die Schweiz singt – hier gibt es besonders viele Chöre. Heute vor allem ein Massenhobby, hatten die Chöre im 19. Jahrhundert politischen Einfluss und besangen den neuen Bundesstaat. Das sagt die Berner Musikwissenschaftlerin Caiti Hauck, die das Chorleben erstmals vertieft untersucht hat.
Hunderte von Jodlerchören ergänzendas Spektrum der stilistisch vielfältigen Gesangsgruppen. Im Bild Jodler aus dem Wallis am Eidgenössischen Jodlerfest 1975. Foto Keystone
Im Advent gehören die Bühnen den Chören. Vom Berner Bach-Chor über den Schweizer Jugendchor und den Gospel-Chor Appenzeller Mittelland bis zum Chœur Pro Arte in Lausanne laden Gesangsgruppen zu Weihnachtskonzerten ein. Doch auch das restliche Jahr über sind Chöre aktiv. Die Schweiz hat eine reichhaltige Chorszene. Laut Bundesstatistik singt jede fünfte Person im Land in ihrer Freizeit, meist wöchentlich und am häufigsten in einem Chor. «Im europäischen Vergleich weist die Schweiz eine der höchsten Quoten an Sängerinnen und Sängern auf», sagt Caiti Hauck von der Universität Bern.
Die genaue Anzahl der Chöre bleibt unklar, da es viele unterschiedliche Arten gibt. Der Schweizerischen Chorvereinigung, dem Dachverband der weltlichen Chöre, gehören aktuell über 1200 Formationen an: Männer-, Frauen-, gemischte, Kinder- und Jugendchöre. Nach einem Rückgang während der Corona-Pandemie hat sich die Zahl wieder stabilisiert, berichtet Anna-Barbara Winzeler von der Chorvereinigung. Hinzu kommen Hunderte Kirchenchöre, Hunderte Jodlerklubs und zahlreiche informelle Vokalensembles, die in keinem Verzeichnis auftauchen.
Historische Wurzeln
Besonders dicht ist die Chorszene im Kanton Freiburg. Der dortige Chorgesang zählt zu den «lebendigen Traditionen der Schweiz», einer Liste des Bundesamts für Kultur, die im Rahmen der Unesco-Konvention das immaterielle Kulturerbe bewahren will. Doch warum ist das Chorsingen in der Schweiz so verbreitet? Neben den universellen Vorteilen – gemeinsames Singen hebt die Stimmung und stärkt nachweislich das Immunsystem – spielen historische Gründe eine Rolle.
Die Freiburger Kantonsregierung fürchtete sie und setzte sie unter Druck: die Société de Chant de la Ville de Fribourg. Abbildung ZVG
Im 19. Jahrhundert waren Chöre nicht nur musikalische Vereine. Sie errangen politisches Gewicht in einer von Spannungen geprägten Zeit: zwischen Liberalen und Konservativen, Reformierten und Katholiken. Im Jahr nach dem Sonderbundskrieg entstand 1848 der Bundesstaat, die erste moderne Demokratie in Europa. «Männerchöre schufen eine politische Öffentlichkeit rund um die Entstehung des Bundesstaats», erklärt Hauck. Sie hat das Chorleben in den Städten Bern und Freiburg erstmals vertieft untersucht. Ihre Quellen: Festschriften, Vereinsakten, Mitgliederlisten, Korrespondenzen, Konzertprogramme und Presseartikel.
Politische Töne
Hauck fand in Bern und Freiburg über 100 Gesangsvereine. Besonders prägend waren die 1841 gegründete «Société de Chant de la Ville de Fribourg», der erste weltliche Männerchor in der Romandie, und die 1845 gegründete «Berner Liedertafel».
Beide Chöre vertraten liberal-radikale Ansichten, im Gegensatz etwa zum 1877 in konservativ-kirchlichem Umfeld gegründeten Männerchor Cäcilienverein Freiburg. Die Société de Chant zeigte ihre Haltung mit revolutionären Liedern wie «Au bord de la libre Sarine», komponiert von Jacques Vogt, dem Gründer des Chors.
Nach dem Sieg der Progressiven gewannen die Konservativen in Freiburg in den 1850er-Jahren wieder die Oberhand. Die Regierung fürchtete den Einfluss der Société de Chant und versuchte, ihre Aktivitäten zu unterbinden. Erst 1871 konnte der Chor wieder ein kantonales Gesangsfest organisieren – und lud dazu die Berner Liedertafel ein. Der angesehene Chor aus der neuen Bundesstadt war eng mit der Politik verknüpft; unter seinen Passivmitgliedern fanden sich Bundesräte. Die Berner Sänger unterstützten ihre Freiburger Kollegen aus Solidarität – aber auch «aus patriotischer Pflicht», um die Einheit der noch jungen Eidgenossenschaft zu stärken.
Singen fürs Vaterland
«Trotz sprachlicher und religiöser Unterschiede pflegten die beiden Chöre eine enge Freundschaft über den Röstigraben hinweg», berichtet Hauck. Dies belegt ein reger Briefwechsel. Männerchöre förderten nicht nur das gemeinsame Singen und trugen weltanschauliche Konflikte aus, sie wollten auch ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl aufbauen. Besonders bei den grossen eidgenössischen Sängerfesten, die seit 1843 regelmässig stattfanden, wurde der Zusammenhalt zelebriert – ähnlich wie bei Turn- oder Schützenfesten.
Das Repertoire umfasste eigens komponierte Nationallieder wie «O mein Heimatland, o mein Vaterland» des Schriftstellers Gottfried Keller und des Komponisten Wilhelm Baumgartner. Auch Volks- und Naturlieder waren beliebt. Die Berner Liedertafel wagte sich zudem an anspruchsvolle Werke, etwa von Franz Schubert. Gemischte Chöre und Frauenchöre gab es im 19. Jahrhundert zwar auch schon. «Einige Frauenchöre nahmen an kantonalen Gesangsfesten teil und erzielten Bestnoten», sagt Hauck. Öffentlich dominierten jedoch die Männerchöre – ein Spiegel der damaligen Geschlechterordnung.
Breite Bevölkerungsschichten
Ein Pionier des Schweizer Chorgesangs war Hans Georg Nägeli. Der Zürcher Komponist und Verleger förderte die musikalische Volksbildung. 1805 gründete er das erste nichtkirchliche Singinstitut, aus dem 1810 der erste weltliche Männerchor hervorging. Chöre für breite Bevölkerungsschichten waren eine Innovation des 19. Jahrhunderts. Nägeli, europaweit als «Sängervater» bekannt, prägte mit seinen musikpädagogischen Ideen die Deutschschweiz und die Romandie. «Viele Chöre berufen sich in ihren Quellen immer wieder auf ihn», weiss Hauck.
Hauck stammt aus Brasilien und lebt seit 2017 im Kanton Waadt. Warum widmet sie sich einem musikwissenschaftlich bisher kaum beachteten Thema? «Chormusik faszinierte mich schon während meines Studiums in São Paulo», sagt sie. Sie sang selbst in Chören und leitete zuletzt den Polizeimännerchor Lausanne. Ihre Forschungsergebnisse vermittelt sie anschaulich: Gemeinsam mit dem Zeichner Julien Cachemaille veröffentlichte sie den Wissenschaftscomic «Drei Schweizer Chorsänger im 19. Jahrhundert», der online auf Deutsch und Französisch verfügbar ist.
Die Schweizer Chorkultur wandert auch aus… Hier eine Einladung des «Vancouver Swiss Choir» und der «Vancouver Dorfmusik» für ein Weihnachts-Konzert im Dezember 2025. Foto ZVG
Wandel und Beständigkeit
Die Berner Liedertafel blieb ein Männerchor und löste sich 2018 wegen Nachwuchsmangels auf. Die «Société de Chant de la Ville de Fribourg» existiert schon seit 2000 nicht mehr. Dass Chöre kommen und gehen, sei normal, sagt Hauck. Schon im 19. Jahrhundert finden sich Klagen über unregelmässige Probebesuche in Protokollen und hörten Chöre wegen Mitgliederschwunds auf. Es wurden aber immer wieder neue gegründet – bis heute, mit breitester stilistischer Vielfalt. «Die Chorkultur in der Schweiz lebt und verbindet Generationen», so die Forscherin. Politische Diskussionen spielen weniger eine Rolle, auch wenn Chöre weiterhin Zeichen setzen – für die queere Community, Feminismus oder als gemeinsamer Chor von Einheimischen und Asylsuchenden.
Deutlich verändert hat sich die Organisationsform. Chorvereine, die wöchentlich am Abend proben, gibt es noch, doch flexible Projektchöre haben an Bedeutung gewonnen. «Es ist nicht schwierig, Singbegeisterte zu finden – nur die Bindung an einen einzelnen Chor ist lockerer geworden», stellt Anna-Barbara Winzeler von der Chorvereinigung fest. Sie ist Musikstudentin an der Hochschule Luzern und leitet den Chor «chorisma» aus Schaffhausen mit Sängerinnen und Sängern zwischen 18 und 35 Jahren. Junge helfen mit, die Chorkultur weiterzutragen, betont sie.
Der Wissenschaftscomic «Drei Chorsänger im 19. Jahrhundert» ist auf der Website des Forschungsprojekts in deutscher und französischer Sprache kostenlos zugänglich: www.clefni.unibe.ch
Chorgesang hören Online finden Sie ausgewählte Hörbeispiele aus dem Schweizer Chorwesen: www.revue.link/chor
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