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  • Politik

Die Fünfte Schweiz verstärkt Trends oder setzt Kontrapunkte – aber sie ist nie die Vetomacht

20.10.2023 – Marc Lettau + Theodora Peter

Wie haben die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in den letzten vier Jahren an der Urne abgestimmt? Die «Schweizer Revue» analysierte die Datensätze der letzten 36 nationalen Volksabstimmungen. Es zeigt sich ein differenziertes Bild.

An den Wahlen von 2019 verblüffte die Fünfte Schweiz viele: Sie wählte sehr markant grün. Die Grüne Partei verbuchte im Inland grosse Zugewinne. In der Fünften Schweiz legten die Grünen aber gleich doppelt so stark zu. Doch Wahlen und die vielen nationalen Volksabstimmungen gehorchen unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten. Daher die Fragen: Wie also stimmten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei den Volksabstimmungen der letzten vier Jahre ab? Welchen Einfluss hatten sie jeweils auf das nationale Abstimmungsresultat? Und lassen sich in ihrem Abstimmungsverhalten eingängige, einprägsame Muster erkennen?

Auf der Suche nach einem «Big Picture» hat die «Schweizer Revue» die detaillierten Datensätze der letzten 36 Volksabstimmungen genauer unter die Lupe genommen. Bei gut einem Drittel aller Volksabstimmungen – 14 von 36 – ergeben die Stimmen aus dem Inland und jene aus dem Ausland ein sehr ähnliches Bild. Die Abweichungen liegen bei wenigen Prozentpunkten. Diese wenig signifikanten Abweichungen erlauben als simple erste Aussage: Oft stimmt die Fünfte Schweiz einfach gleich wie die Schweiz als Ganzes. Einer vertieften Betrachtung unterzogen wurden in der Folge Abstimmungsresultate mit Abweichungen von 5 und mehr Prozentpunkten. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse:

Die Verstärkerrolle

Die Fünfte Schweiz spielt gerne die Verstärkerrolle. Sie verstärkte bei 14 von 36 Vorlagen den im Inland gereiften Konsens, quittierte also beispielsweise ein Inland-Ja mit einem weit markanteren Ja aus der Ferne. Insbesondere in wertebasierten, gesellschaftspolitischen Fragen wirkte die Fünfte Schweiz in diesem Sinne akzentuierend. So sagte die Fünfte Schweiz überdurchschnittlich stark Ja zur Einführung eines Vaterschaftsurlaubs (Abweichung +18,2 Prozentpunkte), zum Paradigmenwechsel bei der Organspende (+16,2), zur Erhöhung des AHV-Alters für Frauen (+7,5) sowie zur Ehe für alle (+7,1). Ein Nein verstärkten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei der Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung. Ihre Ablehnung lag um gut 15 Prozentpunkte höher als das Nein der Inlandschweiz. Sie war in all diesen Themenfeldern alles andere als eine Gegenkraft.

Der Kontrapunkt

Bei einem Viertel aller Abstimmungen – bei 9 von 36 – hatten die Abstimmenden im Inland und jene im Ausland das Heu gar nicht auf der gleichen Bühne: Hier stehen klaren Nein-Resultaten im Inland ebenso klare Ja-Resultate in der Fünften Schweiz gegenüber – oder umgekehrt.

Markante Differenzen bei ökologischen und naturschützerischen Anliegen: Sagt die Schweiz als Ganzes nein, sagte die Fünfte Schweiz oft sehr deutlich ja.

Hier zeigt sich die Verbindung zum grünen Wahlergebnis von 2019: Die Rolle als Kontrapunkt, als Korrektiv, spielte die Fünfte Schweiz primär bei grünen, ökologischen Fragestellungen. Sie sagte – im Gegensatz zur Schweiz als Ganzes – Ja zur Trinkwasser-Initiative, Ja zum CO?-Gesetz und Ja zur Initiative gegen Massentierhaltung. Den mit Abstand stärksten Kontrapunkt setzte die Fünfte Schweiz beim CO?-Gesetz, das 2021 an der Urne scheiterte: Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer nahmen das Gesetz mit 72,2 Prozent wuchtig an – eine Differenz von fast 23 Prozentpunkten zum Gesamtresultat.

Die Fünfte Schweiz stimmt erkennbar eigenständig ab. Sie ist in keiner Weise ein unberechenbares, exotisches und oppositionelles Elektorat.

Erstes Fazit: Ein Dreiklang

Die Auswertung der 36 Abstimmungen der zu Ende gehenden Legislatur zeigt als grobes Bild: Die Fünfte Schweiz stimmt erkennbar eigenständig ab, ist aber in keiner Weise ein unberechenbares, exotisches und oppositionelles Elektorat, das es zu fürchten gilt. Ihr Profil ist geprägt von einem Dreiklang aus Bestätigen, Verstärken und Gegensteuer geben. Verstärkend bei wertebasierten, gesellschaftspolitischen Fragen; Gegensteuer gebend bei ökologischen Themen, die im Inland einen schweren Stand haben.

Zweites Fazit: Keine Vetomacht

Und: Die Fünfte Schweiz ist keine Vetomacht. Sie spielte bei keiner der 36 Abstimmungen der zu Ende gehenden Legislatur das entscheidende Zünglein an der Waage. Ihr Gewicht ist zu gering. Die registrierten Stimmberechtigen der Fünften Schweiz machen nur rund vier Prozent des gesamten Stimmkörpers aus. Das reicht aus, um mit einem sehr klaren Votum das Gesamtergebnis geringfügig – um rund +/- 0,5 Prozentpunkte – zu beeinflussen. Meistens führen die Stimmen aus dem Ausland aber zu weit kleineren Verschiebungen. Im Schnitt aller Abstimmungen lag der Effekt bei bloss 0,2 Prozentpunkten.

Drittes Fazit: Durchschnittlich folgsam

Eine seit längerem bekannte These lautet: Abstimmungsvorlagen, die von der Behörde selbst eingebracht werden, finden in der Fünften Schweiz oft mehr Zustimmung als im Inland. Die letzten 36 Abstimmungen widersprechen dieser These nicht. Nehmen wir aber die Abstimmungsempfehlungen des Bundesrats als Ausgangspunkt, ist die «Folgsamkeit» diesseits und jenseits der Schweizer Grenze in etwa gleich stark ausgeprägt. Im Inland verweigerte das Elektorat dem Bundesrat in zwölf Abstimmungen die Gefolgschaft. Die Stimmberechtigten im Ausland folgten ihm in 13 Fällen nicht, erreichten also in etwa den gleichen «Folgsamkeitsfaktor».

Viertes Fazit: Politisches Gewicht wächst

Die Fünfte Schweiz spielte an nationalen Abstimmungen der letzten vier Jahre nie das Zünglein an der Waage. Gleichzeitig wächst aber ihr politisches Gewicht stetig. Foto iStock

So klein der Einfluss der Fünften Schweiz auch sein mag: ihr politisches Gewicht wächst. Die Zahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, die sich ins Stimmregister eintragen lassen, steigt stetig. Und sie steigt relativ betrachtet dreimal stärker als die Gesamtheit der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Gemäss Bundesamt für Statistik waren es per 31. Dezember 2022 gut 227’000 Eingetragene. Punkto politischem Gewicht ist die Fünfte Schweiz somit im Begriff, den Kanton Tessin zu überflügeln.

Eine aussagekräftige Teilmenge

Wer das Abstimmungsverhalten der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer analysieren will, erkennt Grenzen. In erster Linie gilt es festzuhalten, dass die Fünfte Schweiz kein eigener Wahlkreis ist. Abgestimmt wird im Heimatkanton, respektive im letzten Wohnsitzkanton. Aber nicht alle Kantone weisen die aus dem Ausland eintreffenden Stimmen separat aus.

Detaillierte Angaben zum Stimmverhalten der Fünften Schweiz machen die zwölf Kantone Aargau (AG), Appenzell-Innerrhoden (AI), Basel-Stadt (BS), Freiburg (FR), Genf (GE), Luzern (LU), St. Gallen (SG), Thurgau (TG), Uri (UR), Waadt (VD), Wallis (VS) und Zürich (ZH). Diese Teilmenge vereint ländliche und urbane Kantone, vereint Deutschschweiz und lateinische Schweiz – und sie ist gross: Sie umfasst 60 Prozent aller Stimmberechtigten der Schweiz und 60 Prozent der eingetragenen Stimmberechtigten der Fünften Schweiz.

Vor allem aber verhält sich diese etwas unförmige, unvollständige «Zwölf-Kantone-Schweiz» an der Urne weitestgehend sehr ähnlich wie die Schweiz als Ganzes. Bei 34 der 36 Abstimmungen der zu Ende gehenden Legislatur (2019-2013) waren die Abweichungen der Resultate gering, im Schnitt weniger als +/- 1 Prozentpunkt. Bei zwei Abstimmungen waren die Differenzen markant. Die Folgerung: Die zwölf Kantone bilden eine aussagekräftige Teilmenge; die Inlandstimmen und die Auslandstimmen der zwölf Kantone gegenüberzustellen, ergibt ein akkurates Bild.

Methodik

Bei der Publikation von Abstimmungsergebnissen wird meistens – auch von der «Schweizer Revue» – das Gesamtergebnis dem Abstimmungsverhalten der Fünften Schweiz gegenübergestellt. Dies führt aber zu einer leichten Unschärfe: Im Gesamtergebnis sind nämlich auch die Stimmen aus der Fünften Schweiz enthalten. Das Redaktionsteam der «Schweizer Revue» hat deshalb bei ihrer Nachbetrachtung der Datensätze die Abstimmungsergebnisse aller Kantone bereinigt: Einander gegenübergestellt wurden die reinen Inlandstimmen und die reinen Auslandstimmen. Dank dieser Bereinigung werden die Abweichungen im Stimmverhalten klarer.

Die kleinste Abweichung zwischen Inland- und Auslandresultat lag bei 1.1 Prozentpunkten, dies bei der Abstimmung über die Stärkung der Pflegeberufe (2021). Die grösste Abweichung zeigte sich mit knapp 22.8 Prozentpunkten bei der Abstimmung übers CO2-Gesetz (2021). Für die Suche nach den «groben Mustern» im Abstimmungsverhalten der Fünften Schweiz wurden Abstimmungen mit einer Abweichung von mindestens 5 Prozentpunkten berücksichtigt. (MUL, TP)

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Kommentare :

  • user
    Alejandro Lemp Pavez, Chile, Santiago 26.10.2023 um 12:17

    Excelente análisis, nos permite conocer con claridad nuestra influencia en nuestro pais.

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  • user
    Gérald Borel, Florianopolis, Brésil 20.10.2023 um 16:45

    Il est aberrant de constater que la confédération n'a toujours pas ou plutôt préfère laisser trainer en longueur le moyen de pouvoir faire voter les Suisses de l’étranger par moyens électroniques, ceci principalement (ou seulement) pour les suisses dont le domicile se trouvent en régions éloignées (outre-mer) et/ou ne bénéficiant pas de liaisons postales efficaces et/ou fiables.


    Les motifs de “sécurité“ etc.. n’est plus tellement crédibles vu les moyens mises à dispositions aujourd’hui, comme par exemple après s’être enregistrer personnellement pour communiquer avec ses comptes bancaires ainsi que dans de nombreux autres organismes sensibles.


    Exemple personnel, j’ai reçu le 26 mars 2022 les documents pour la votation du… 28 novembre 2021, ou autres exemples, à plusieurs reprises, ayant le même jour de la réception du matériel de vote, parcouru au total 68 km jusqu’à la poste la plus proche afin d’envoyer par inscrit et en priorité le courrier de votation de retour, et constater que mon envoi est arrivé à destination en Suisse six jours après la votation !


    Donc ne serait-il pas possible d’envoyer en premier lieu le feuillet informatif par e-mail afin d’avoir suffisamment de temps pour l’étudier, puis sur demande et sur un site protéger, voter à l’aide de son nom d’utilisateur, mot de passe et code personnel reçu par sms, et ceci comme cela se fait dans n’innombrables autres domaines ?!


    Et pour finir, une petite anecdote : il y a fort longtemps, ma mère me demandait toujours pour qui voter ! Cela démontre que l’excuse concernant la sécurité n’a jamais été et ne sera jamais totale.

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