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Welche Neutralität?

09.12.2022 – MARCO JORIO

«Es kommt niemand mehr draus», rief der Moderator während einer politischen Diskussionssendung im Schweizer Fernsehen zur Neutralität schon fast verzweifelt aus, als die Politikerinnen und Politiker in der Runde mit Adjektiven gespickte Neutralitätskonzepte um sich warfen. Auch in der öffentlichen Debatte gehen Begriffe wie «integrale», «differenzielle», «kooperative» Neutralität wild durcheinander. Die Liste solcher Adjektiv-Neutralitäten belegt, dass Neutralität kein feststehendes Konzept ist. «Die Neutralität färbt sich je nach Entwicklung der Ereignisse», meinte schon während des Zweiten Weltkriegs Aussenminister Marcel Pilet-Golaz.

Dr. h.c. Marco Jorio ist Historiker (Fachgebiete Neuere Geschichte und Schweizergeschichte). Er war während 30 Jahren Projektleiter und Chefredaktor des «Historischen Lexikons der Schweiz». In Bälde wird eine von ihm verfasste Neutralitätsgeschichte erscheinen.

Zwar gibt es seit 1907 ein international vereinbartes Neutralitätsrecht, aber dieses legt nur einige wenige Grundsätze über die Pflichten und Rechte des Neutralen im Krieg fest. Darum herum entwickelte sich die Neutralitätspolitik, die jeder neutrale Staat in eigener Verantwortung in Friedens- und Kriegszeiten betreibt, um seiner Neutralität Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Diese ist noch offener als das Neutra­litäts­recht. Unter den verschiedenen «Neutralitäten» gibt es einerseits die «immerwährende» Neutralität, wie sie die Schweiz seit 400 Jahren praktiziert, andererseits die «gelegentliche» Neutralität, die nur in einem präzisen Krieg verfolgt und von fast allen Staaten in fast allen Kriegen angewendet wird. Die Neutralität kann bewaffnet (Schweiz, Österreich) oder unbewaffnet sein (Costa Rica); sie kann völkerrechtlich anerkannt sein (Schweiz, Österreich) oder als selbst gewählte Praxis ohne völkerrechtliche Anerkennung umgesetzt werden (Irland).

Aber auch die von der Schweiz praktizierte immerwährende, bewaffnete und seit 1815 völkerrechtlich anerkannte Neutralität wandelte sich. Bis zum Ersten Weltkrieg war Neutralität ausschliesslich militärisch konnotiert. Im Ersten Weltkrieg führten die beiden Kriegsparteien einen unbarmherzigen Wirtschaftskrieg, in den auch die Neutralen gegen ihren Willen einbezogen wurden. Die Schweiz musste praktisch den ganzen Aussenhandel der Kontrolle der beiden Kriegsallianzen unterstellen. Damals kam der Begriff der wirtschaftlichen Neutralität auf.

Nach dem Krieg trat die Schweiz dem Völkerbund bei. Die Schweiz war aber nicht bereit, auf die militärische Neutralität zu verzichten. Nach zähen Verhandlungen wurde ihr in der Londoner Erklärung von 1920 zugestanden, dass sie keine militärischen, wohl aber wirtschaftliche Sanktionen übernehmen musste. Diese Spielart der Neutralität wurde nun «differenzielle Neutralität» genannt. Als sich in den 1930er-Jahren herausstellte, dass der Völkerbund nicht in der Lage war, den Weltfrieden zu bewahren, distanzierte sich die Schweiz 1938 mit dem Schlagwort «Rückkehr zur integralen Neutralität» vom Völkerbund. Sie erhielt vom Völkerbund das Zugeständnis, nicht mehr an die Sanktionen des Völkerbunds gebunden zu sein.

Diese «integrale Neutralität» verfolgte die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, wobei sie diese starre und sehr formaljuristische Haltung seit den 1960er-Jahren sukzessive aufweichte. So trat die Schweiz dem Europarat bei, verfolgte eine idealistische Menschenrechtspolitik und nahm aktiv an den Verhandlungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa teil (KSZE, heute OSZE). Seit dem Beitritt der Schweiz zur UNO vor zwanzig Jahren verfolgt die Schweiz wieder eine Art «differenzielle Neutralität». Im Unterschied zu 1920 wurde der Schweiz beim Beitritt zur UNO formell kein neutraler Status zugestanden. Die Schweiz hat aber einseitig deklariert, an ihrer Neutralität festhalten zu wollen. Nun schränkt die UNO-Charta die Neutralität ein und verpflichtet die Schweiz, von der UNO verhängte Sanktionen zu übernehmen. Aber zusätzlich sieht die Schweiz in ihrem eigenen Sanktionsgesetz von 2002 vor, auch Sanktionen, welche die OSZE und die wichtigsten Handelspartner verfügt haben, zu folgen, wie dies jetzt mit den EU-Sanktionen gegen den Aggressor Russland geschehen ist. Ob die von Bundespräsident Cassis jüngst in die Welt gesetzte «kooperative Neutralität» je Realität wird, steht noch in den Sternen.

Neutralität im «Historischen Lexikon der Schweiz»

Kaum ein anderes Land praktiziert die Neutralität so lange wie die Schweiz. Doch ist sie noch zeitgemäss? Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die politische Debatte dazu neu aufgeflammt. Früher oder später wird die Grundsatzfrage an der Urne entschieden.

Mehr erfahren im Artikel «In Europa herrscht Krieg – und die Schweiz ringt um ihre Neutralität.»

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