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Charles Lewinsky | Doppelbödiges Überwintern

06.05.2015 – JÜRG MÜLLER

Was tun, wenn man im Berlin von Ende 1944 den militärischen Zusammenbruch vor Augen hat und nur noch eines will: seine Haut retten? Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky destilliert aus dieser Endzeitstimmung heraus einen tragisch-komischen Roman der Extraklasse. Ein Team des Filmunternehmens UFA erschleicht sich den Auftrag, einen Propagandastreifen zur Stärkung des Durchhaltewillens zu drehen, und zwar in den bayerischen Alpen. Und so macht sich ein bunt zusammengewürfelter Filmtross auf den Weg, wobei – mehr oder weniger stillschweigend – allen klar ist, dass das primäre Ziel nicht der Film, sondern die Flucht aus dem Hexenkessel Berlin ist.

Die echten Herausforderungen beginnen dann in Kastelau. So heisst das abgeschiedene und fiktive Kaff, wo es – im doppelten Sinn des Wortes – zu überwintern gilt. Denn man muss ja so tun, als ob. Keiner im Dorf darf Verdacht schöpfen, dass hier nicht ernsthaft an einem Film im Dienst des deutschen Endsiegs gearbeitet wird. Auch das Filmteam ist ambivalent: halb regimetreu, halb desertierend. Und als sich die Amerikaner nähern, muss man die paar lustlos gedrehten Szenen noch schnell so um- und neu zusammenschneiden und ergänzen, dass aus dem Nazi-Streifen mit dem Titel «Lied der Freiheit» ein heldenhaftes Filmdokument des Widerstands gegen das Regime wird. Man will ja schliesslich den vorrückenden Alliierten nicht als Nazi-Propagandatrupp in die Hände fallen.

Durch das Filmteam wird Kastelau, das biedere Dorf, zur skurrilen Bühne all der Charaktere, die eine Diktatur nun mal so hervorbringt: überzeugte Nazis, Anpasser, Regimegegner, Durchmogler, Wendehälse. Ein solcher Wendehals ist es auch, der im Zentrum des Geschehens steht. Walter Arnold machte zuerst als Schauspieler in Nazideutschland Karriere, dann als Arnie Walton in Hollywood. Der Amerikaner Samuel A. Saunders kommt auf die Spur dieser Geschichte, recherchiert, entdeckt Papiere, führt Interviews. Charles Lewinsky verfertigt eine zu Beginn des Buches etwas chaotisch anmutende Collage dieser – vollkommen fiktiven – Dokumente, die sich aber rasch zu einem immer temporeicheren Roman verdichten. Mehr noch: Es werden elementare Fragen menschlichen Verhaltens in Extremsituationen behandelt, in einer grandiosen und trotz aller Tragik und Dramatik unterhaltsamen, spannenden Art und Weise. Lewinsky, der mit «Melnitz» und «Gerron» bereits meisterhafte historische Romane geschrieben hat, erweist sich mit der doppelbödigen Fiktion «Kastelau» auch von der Erzähltechnik und der Konstruktion der Geschichte her als einer der einfallsreichsten Schriftsteller deutscher Sprache.

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