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  • Literaturserie

Ernst Frey | Wie Chaplins Tramp quer durch Amerika

07.06.2021 – Charles Linsmayer

Der naive Schweizer Volksschriftsteller Ernst Frey durchwanderte als 15-Jähriger die Vereinigten Staaten zu Fuss und als blinder Passagier.

Wer hatte nicht schon über Chaplins Darstellung des «Tramps», jenes amerikanischen Wanderarbeiters der 1880er-Jahre, gelacht, der auf Güterzügen mitfuhr, da und dort einen Job annahm und irgendwo ein geklautes Huhn verzehrte? In die Literatur Eingang fand die Figur im 1908 erschienenen Roman «The Autobiography of a Super-Tramp» von William Henry Davies (1871–1940). Auf den Titel seines Romans griff die britische Pop-Gruppe zurück, als sie sich 1969 den Namen «Supertramp» zulegte.

Als Schweizer Zugvogel in Amerika

Nicht bekannt ist dagegen, dass es auch einen Schweizer gab, der bereits mit 15 Jahren als Tramp in Amerika lebte und seine Erlebnisse in einem eher soziologisch als literarisch bedeutsamen Buch beschrieb. Es handelt sich um den 1876 in Zurzach geborenen Ernst Frey (1876–1956), der von 1891 bis 1894 die USA durchwandert hatte und ab 1905 in Benken (BL) einen Bauernhof betrieb. Zusammen mit seiner literarisch interessierten Frau publizierte der für den Sozialismus begeisterte Bauer autobiografisch gefärbte Erzählungen wie «Güggs. Eine Geschichte» (1912), «Oh Menschenherz» (1915), «Unterwegs» (1925), «Die Frau in Sammet» (1930) sowie die von einem passionierten Lerneifer zeugenden «Briefe an meine Frau» (1925). Sein Leben als Tramp aber, bei dem er fast alle Staaten der USA zu Fuss besucht haben will, hatte Frey bereits 1906 unter dem Titel «Zugvogel. Skizzen aus der Heimat und überm Ozean» geschildert.

Von Knoxville nach Cincinnati

Er habe «nur im Notfall» die Bahn bestiegen, heisst es da. So als er sich von Knoxville nach Cincinnati einer Gruppe von «zwanzig bis fünfzig Tramps» anschloss. Mittels einer Stange Kautabak gelang es ihm, deren Vertrauen zu gewinnen. «Jeder schob seinen Teil zwischen die Zähne, und ich war aller unfreundlichen Augen los.» Ein alter Mann erzählte in dem leeren Güterwagen aus dem Bürgerkrieg. «Der Zug setzte sich in Bewegung. Jeder lag auf dem Boden hingestreckt, kaute seinen Tabak und überliess sich mit offenbarem Vergnügen dem immer stärker werdenden Rütteln und Schütteln.» In Livingston wollte der Lokomotivführer die ungebetenen Passagiere mit dem Wenderohr vertreiben. «Zum Glück kam ich mit dem Gesicht nach unten zu liegen, sonst hätte ich durch die Gewalt der auf mich eindringenden Wassermenge ersticken müssen.» Schliesslich hörte man von draussen die Stimme: «Schade, das Wasser ist aufgebraucht, sonst, the devil catch me, wenn ich nicht die Kerls wie Ratten ersäuft hätte!» Dass der «Engineer» später auf offener Strecke von einem Dutzend Tramps spitalreif geschlagen wurde, erfuhr der Erzähler später aus der Zeitung.

Ich liebe Amerika, weil ich da wie in keinem andern Land meinem Wandertrieb Genüge tun kann, weil es durch seine Grösse und Schönheit, durch alle seine Naturerscheinungen und nicht zuletzt durch seine Freiheiten meinem Wesen gerecht wird. Ich lebe mich hier so aus, wie ich es muss, um geistig und körperlich gesund zu bleiben. In meinem Vaterlande sind die Verhältnisse ganz andere. Dort hätte ich mit meinem Tun bald ein schlimmes Urteil zu gewärtigen.

Ernst Frey, «Zugvogel. Skizzen aus der Heimat und überm Ozean»

Verlag Arnold Bopp, Zürich 1906. Vergriffen

Auch Polly hält ihn nicht zurück

Ehe er 1894 auf einem Frachtschiff nach Liverpool zurückreisen kann, ist der junge Schweizer noch Koch auf einer Austerninsel und erlebt eine dramatische Liebesgeschichte mit einem ebenfalls gerade 17-jährigen Mädchen indianischer Herkunft. Von ihrem Vater geprügelt und fortgejagt, will sich ihm die junge Frau anschliessen, aber er erklärt ihr, sie könne, «als Mädchen, unmöglich sein Wandergeselle sein». Obwohl unsterblich verliebt, bleibt er auch fest bei dieser Haltung, nachdem Polly ihn von der Malaria gesund gepflegt und sogar für ihn gestohlen hat. Nach einem von dem jungen Mann erwirkten Freispruch wegen Diebstahls verlassen die beiden das Gerichtsgebäude, und nachdem sie am Flussufer Zärtlichkeiten ausgetauscht und amerikanische Lieder gesungen haben, verlässt der Schweizer «den hübschesten kleinen Yankee, den er je gesehen hat» in aller Heimlichkeit, um sein unbeschwertes Tramperleben wieder aufzunehmen: «Ein zweiter Abschied von Polly wäre mir zu schwer geworden.»

Von Ernst Frey sind keinerlei Bücher erhältlich.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich

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