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  • Literaturserie

Jean-Luc Benoziglio | Ein Walliser mit türkisch-italienischen Wurzeln

17.03.2016 – Charles Linsmayer

Statt Anwalt in Lausanne wurde Jean-Luc Benoziglio ein vielgelesener Vertreter des Pariser «nouveau roman».

«Ich hätte nach dem Jurastudium in Lausanne bleiben und dort als Rechtsanwalt mein Leben verbringen können. Am Lauf der Geschichte hätte sich damit nichts geändert.» Jean-Luc Benoziglio sagte das 2012, ein Jahr vor seinem Tod, einem Journalisten. Er war nicht in Lausanne geblieben, sondern hatte fast sein ganzes Leben in Paris verbracht und gehörte als Schriftsteller zu den Promotoren des «nouveau roman». Eine Schreibweise, der seine zwischen 1972 und 1978 entstandenen frühen Romane «Quelqu’un bis est mort», «Le Midship», «La Boîte noire», «Béno s’en va-t-en guerre» und «L’Ecrivain fantôme» verpflichtet waren, Bücher, die bei aller stupenden Kunstfertigkeit nur in Insiderkreisen Anklang fanden.

1980, als mit «Cabinet portrait» («Porträt-Sitzung», 1990) sein sechster Roman erschien, liess Benoziglio im Klappentext verlauten: «Opfer des heimtückischen Drucks, der auf ihn ausgeübt wurde, liefert uns der Autor endlich einen sechsten Roman, wo die Sätze kurz sind, die Klammern selten, die Abschnitte zahlreich und die Satzzeichen ungefähr an ihrem Platz, und all das in einer Geschichte von biblischer, romanhafter Einfachheit.» Die Neuorientierung lohnte sich, denn tatsächlich brachte die Geschichte eines Autors, der von seiner Frau verlassen wird, in elenden Hinterzimmern haust und in einem vielbändigen Lexikon nach seiner Herkunft forscht – dieses hinterhältig-humorvolle Buch, das dem «nouveau roman» nicht wirklich Adieu sagte, sondern ihn brillant popularisierte – Benoziglio den Prix Médicis ein. Und das Überraschendste war: Erstmals verriet da der scheue Autor Wesentliches über seine Herkunft.

Die Schweiz und das Judentum

Am 19.November 1941 in Monthey VS als Sohn des aus der Türkei eingewanderten jüdischen Psychiaters Nissim Beno und einer streng katholischen Italienerin geboren, war er nach dem Jusstudium Verlagslektor bei einer ganzen Reihe angesehener Pariser Verlage geworden – unter ihnen die Editions du Seuil, in deren avantgardistischer Reihe «Fiction & Cie» fünfzehn seiner Bücher erschienen.

Längst naturalisierter Franzose, vergass Benoziglio die Schweiz aber ebenso wenig wie seine jüdische Herkunft. «Man lebt nicht seine ersten 25 Jahre in einem Land, einem Kanton, einer Stadt, ohne davon tief geprägt zu sein», erklärte er einmal.

Auch der Genozid an den Juden ist ein stets wiederkehrendes Thema, auch wenn er mit immer neuen Perspektiven zu überraschen weiss. So lässt «Le jour où naquit Kary Karinaky» («Der Tag, an dem Kary Karinaky auf die Welt kam», 1986) auf dem Höhepunkt der Kubakrise Sitzungen im Weissen Haus, im Kreml und in einem Pariser Schulhaus, wo das Schicksal der schlechten Schülerin Kary auf dem Spiel steht, nebeneinander ablaufen. «Peinture au pistolet» («Stilleben mit Pistole», 1993) befasst sich auf provokative Weise mit der Flüchtlingspolitik der Schweiz zwischen 1939 und 1945 und mit den Pariser Unruhen vom Mai 1968. «Le feu au lac» («Das Losungswort», 1998) ist eine erschütternde literarische Erinnerung an den Holocaust, während «La pyramide ronde» («Die runde Pyramide», 2001) einen despotischen ägyptischen Pharao zu literarischem Leben erweckt. In die Schweiz zurück führt schliesslich Benoziglios letztes Buch: «Louis Capet, suite et fin» («Louis Capet, Fortsetzung und Schluss», 2005). Es geht davon aus, dass die französische Nationalversammlung 1793 Ludwig XVI. nicht zur Guillotine verurteilt, sondern ins Schweizer Exil verbannt habe. Da erreicht den unter dem bürgerlichen Namen Louis Capet lebenden Ex-König der historisch vorgesehene Tod durch Genickbruch aber doch noch, als er sich bei einem Treppensturz den Hals bricht.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.

«Für mich entsteht das Schreiben aus dem Schreiben, durch das Assoziieren von Ideen und Wörtern. Ich liebe es, mich selbst zu überraschen, wo sonst wäre das Vergnügen beim Schreiben? Ich habe manche Einfälle erst zehn Sekunden, bevor ich sie niederschreibe. Und wenn ich mich wiederlese, streiche ich eher, als etwas zu ergänzen.»

Interview mit «Le Temps»

16. April 2005

Bibliografie: Beim Verlag Die Brotsuppe, Biel, ist «Das Losungswort» in der Übersetzung von Gabriela Zehnder greifbar.
 

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