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  • Literaturserie

Ágota Kristóf |«Das Französische ist dabei, meine Muttersprache umzubringen»

05.08.2022 – CHARLES LINSMAYER

Das sprachlich Einzigartige von Ágota Kristófs Texten über Krieg, Mord und Totschlag erklärt sich damit, dass Französisch für sie bis zuletzt eine «Feindsprache» war.

Es sind in der Schweiz keine Bücher entstanden, die auf derart direkte, unverstellte, unbeschönigte, ja grausambrutale, aber sprachlich unverwechselbare Weise vom Krieg handeln wie die Romantrilogie «Das grosse Heft» / «Der Beweis» / «Die dritte Lüge» von Ágota Kristóf (1935-2011). Da lässt sich auf erschütternde Weise erleben, was Menschen, jeder Menschlichkeit entfremdet, einander antun können.

Krieg, Terror und Flucht

Am 30. Oktober 1935 im ungarischen Csikvánd geboren, ist sie neunjährig, als deutsche Truppen Ungarn erobern, genau so alt wie die beiden Zwillinge, die sie in ihrer Trilogie den Krieg und später den Stalinismus erleben lassen wird. Als Gymnasiastin verliebt sie sich in ihren Geschichtslehrer, und mit ihm und ihrer kleinen Tochter flieht sie als Opfer des russischen Einmarschs nach dem Ungarnaufstand über die Grenze nach Österreich. «Ich habe mein Tagebuch in Geheimschrift zurückgelassen in Ungarn», erinnert sie sich später, «auch meine ersten Gedichte. Ich habe meine Brüder, meine Eltern dort zurückgelassen, ohne Vorwarnung, ohne ihnen Lebewohl oder auf Wiedersehen zu sagen. Aber vor allem habe ich an diesem Tag, Ende November 1956, meine Zugehörigkeit zu einem Volk verloren.»

Uhrenarbeiterin in Neuenburg

Aus Österreich reist sie weiter in die Schweiz, wo sie in Neuenburg Arbeit in einer Uhrenfabrik findet. Sie lernt Französisch und nimmt in dieser Sprache ihre literarischen Versuche wieder auf. Bis zuletzt aber wird sie das Französische als «Feindsprache» bezeichnen. Weil sie es niemals fehlerlos, sondern nur mit Hilfe eines oft benutzten Wörterbuchs schreiben kann. «Und weil diese Sprache dabei ist, meine Muttersprache umzubringen.» An die Öffentlichkeit gelangt sie zunächst, von den Medien kaum wahrgenommen, mit Dramen und Hörspielen, die von Laientheatern in Neuenburg aufgeführt beziehungsweise von Radio Suisse Romande gesendet werden.

Ein unerwarteter Welterfolg

Als 1986 bei den Pariser Éditions du Seuil mit «Le grand cahier» ihr ProsaDebüt erscheint, erlebt sie die Überraschung, dass nicht nur dieser Roman, sondern auch die Fortsetzungen «La preuve» (1988) und «Le troisième mensonge» (1991) sie zu einer weltweit gelesenen Autorin machen, obwohl sie letztlich nichts anderes als die unerträgliche Brutalität des Daseins thematisiert. In einer Sprache, die, weil sie Mühe mit ihr hat, einem Sprachlehrbuch für Anfänger entnommen sein könnte und in ihrer Lakonie nichts als Kälte und Leere vermittelt, wird die bedrückende Zeit evoziert, die sie als Kind in Ungarn erlebt hat. Alles ist grau, weiss kommt nur in besudelter Form vor, die Figuren sind austauschbar, wechseln ihre Namen, in ihren abgetöteten Gefühlen hat ein Wort wie Liebe keinen Platz, der Schwächere gibt weiter, was der Stärkere ihm antut, und von Mord und Totschlag bis zum Verrat und zum Inzest passiert immer wieder Unerhörtes, für das es keinen plausiblen Grund gibt. Wobei die Trilogie, in deren Zentrum in wechselnden Konstellationen die zwei symbiotisch verbundenen Zwillinge Claus und Lucas stehen, gerade mit ihren ungeheuerlichen Traumata und in ihrer ungemilderten Grausamkeit etwas Archaisch-Mythisches anklingen lassen, das einem späteren, im Jura angesiedelten Roman wie «Hier» /«Gestern» von 1995 abgeht. Wenn man sich ihren Texten ausliefert, kommt einem jedenfalls nichts Schweizerisches zum Vergleich in den Sinn, aber Kafka, Daniil Charms, Beckett oder eben jene durch nichts gemilderte Hoffnungslosigkeit, die einem die letzten Sätze der Trilogie nahelegen: «Wenn Mutter einmal tot ist, gibt es für mich keinen Grund mehr weiterzuleben. Der Zug – das ist eine gute Idee.»

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.

Ágota Kristóf (1935–2011). Foto: Yvonne Böhler

«Um Gedichte zu schreiben, ist die Fabrik sehr geeignet. Die Arbeit ist monoton, man kann an andere Dinge denken, und die Maschinen haben einen gleichmässigen Rhythmus, der die Verse skandiert. Wenn ein Gedicht Form annimmt, schreibe ich es auf.» (Aus einer Kolumne in der Zeitschrift «du» von 1990, zuletzt in «Die Analphabetin», Piper-Taschenbuch 2007)

Bibliografie: Ágota Kristófs Werke sind auf Deutsch als Piper-Taschenbücher, auf Französisch bei den Pariser Éditions du Seuil greifbar.

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