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  • Literaturserie

Regina Ullmann | Traumatische Münchner Erlebnisse

17.11.2017 – Charles Linsmayer

Von Rilke gefördert, entwickelte sich die St. Gallerin Regina Ullmann zu einer der bedeutendsten deutschsprachigen Erzählerinnen. München, wo sie ihr halbes Leben verbrachte, wurde ihr früh zum Schicksal.

«Ich habe ihn zur Welt gebracht nach Feuer und Todesgefahr. Ich will ihn schützen wie ein grünes Blatt seine Wunderblume.» Die Bäuerin sagt das von ihrem unwillkommenen, weil behinderten Kind, das ihr Mann am liebsten töten würde, und sie sagt das im Minidrama «Feldpredigt», das 1907 in Frankfurt erschien. Verfasserin war die am 14. Dezember 1884 in St.Gallen geborene Fabrikantentochter Regina Ullmann, die seit dem Tod ihres Vaters mit Mutter und Schwester in München lebte und im Künstlerviertel Schwabing als Original herumgereicht wurde. Wie eine Bauernmagd gekleidet, mit einem Auge schielend, von langsamer Schreib- und Redeweise, beeindruckte sie Literaten wie Erich von Kahler oder Albert Steffen, sobald sie zu erzählen begann. Rainer Maria Rilke war es schliesslich, der das «dinghafte, schwere und seltsame Geschöpf» unter seinen Schutz nahm, ahnte er doch, wie eng dessen Erstling mit dem eigenen Erleben zusammenhing. Ihre Beschränktheit nutzend, hatten sowohl der Nationalökonom Hanns Dorn als auch der anarchische, mit Freud und Jung zerstrittene Psychiater Otto Gross die naive junge Frau geschwängert und es zugelassen, dass sie die beiden aus den Beziehungen hervorgegangenen Töchter bei Bauern in Feldkirchen bei München aufwachsen liess.

Unauslotbare Tiefe

Rilke konstatierte, dass Regina Ullmann in einer unauslotbaren Tiefe beheimatet sei, steuerte zu ihrem zweiten Buch, «Von der Erde des Lebens», 1910 das Vorwort bei, lektorierte ihre Gedichte und sah in ihrer «Geschichte von einem alten Wirtshausschild» von 1925 einen unüberbietbaren, ja göttlichen Höhepunkt. Als er 1926 starb, fehlte der Mentor, und obwohl sich Regina Ullmann unter dem Einfluss von Ludwig Derleth katholisch hatte taufen lassen und sich in Erzählsammlungen wie «Die Barockkirche» oder «Die Landstrasse» Katholisches mit Barockem und Traumhaftem verband, musste sie 1937 ihrer jüdischen Herkunft wegen Deutschland verlassen. Aus Österreich gelangte sie nach dem Tod ihrer Mutter nach St.Gallen, wo sie mit der Unterstützung der Mäzenin Nanny Wunderly-Volkart bei Nonnen eine Unterkunft fand und bis 1950, als sie gegen Bezahlung das St.Galler Bürgerrecht erhielt, als geduldeter Flüchtling zurückgezogen lebte. Eine Zeitlang hatte sie noch in die USA ausreisen wollen, und es war eine Überraschung, dass die wunderbare, tiefsinnige Erzählerin in der Adenauer-Ära, als Autoren wie Reinhold Schneider und Werner Bergengruen Erfolge feierten, mit Titeln wie «Der Engelskranz» oder «Madonna auf Glas» als Ikone eines katholischen Schrifttums neu entdeckt wurde und sogar als erste den neu gestifteten St. Galler Kulturpreis erhielt. Gestorben aber ist sie nicht in St. Gallen, sondern bei ihrer Tochter in Feldkirchen im Jahr 1961.

Ein nachgelassener Roman

Lebenslang hatte sie sich vergeblich um einen Roman bemüht und dafür immer wieder Subventionen ergattert. Nach ihrem Tod fand sich im Nachlass tatsächlich ein Romanmanuskript mit dem Titel «Girgel und Lisette», an dem sie offenbar viele Jahre lang gearbeitet hatte. Versucht man den Text zu enträtseln, entdeckt man darin eine verkappte Darstellung ihrer Beziehung zu Otto Gross, dem Vater ihrer zweiten Tochter. Und es ergibt sich daraus die Quintessenz, dass Regina Ullmann das Trauma dieser Begegnung lebenslang nicht verwinden konnte und dass das Rätselhafte, Unverwechselbare, oftmals stupend Moderne ihrer Erzählkunst nicht Ausdruck einer göttlichen Inspiration und auch nicht eine Spätfolge ihrer Legasthenie, sondern die Frucht einer tiefen, lebenslang verschwiegenen Liebesverletzung sein dürfte.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.

«Unter mancher meiner Geschichten liegt eine andere, die wirkliche Geschichte, begraben. Sie niederzuschreiben mag nach einigen Jahrzehnten möglich sein. Von den Versuchen, die ich in dieser Richtung unternommen habe, bin ich immer wieder zu­­­rückgetreten. In manche meiner Geschichten bin ich so tief eingedrungen, dass ich kaum mehr aus ihr herausfand.»

Regina Ullmann, aus «Kurz­gefasster Lebenslauf», in «Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen», ein Lesebuch, Frauenfeld, 2000.

«Die Landstrasse» ist bei Nagel & Kimche greifbar. Das Regina-Ullmann-Lesebuch «Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen», das eine ausführliche Biografie der Autorin enthält, kann unter charles@linsmayer.ch bestellt werden.
 

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