Menu
stage img
  • Kultur

Ein Tal, ein Freilichtmuseum

02.10.2014 – Alain Wey

Das im südlichen Tessin gelegene Valle Muggio wurde dieses Jahr zur «Landschaft des Jahres» gewählt. Ein Spaziergang durch das Naturparadies und seine malerischen Dörfer.

Bewaldete Hänge, malerische Dörfer, terrassierte Weiden, Bauten aus einer anderen Zeit. Wer über die Berge und Hügel des Muggiotals wandert, begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Zwischen dem Monte Generoso am Ufer des Luganersees und dem Monte Bisbino am Comer See liegt das kleine Naturparadies, das sich nach Süden hin in die Ebene öffnet. Die Region Valle di Muggio wurde von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz  zur «Landschaft des Jahres 2014» gewählt. Die Auszeichnung würdigt vor allem die Arbeit, die das Ethnografische Museum des Muggiotals seit über dreissig Jahren für die Erfassung und Bewahrung kultureller Güter leistet. Der Konservator des Museums, der 63-jährige Paolo Crivelli, hat das Abenteuer von Anfang an miterlebt. «Das Museum ist das ganze Tal», sagt er, «da muss man natürlich ein bisschen laufen.» Das ist eine Untertreibung  – immerhin geht es von 300 bis auf 1700 Meter über Meer. Die Stadt ­Mendrisio am Fusse des Tals scheint aus einer anderen Welt zu stammen, so gross ist der Kontrast zu den traditionellen Dörfern.

Aus der Mitte entspringt ein Fluss

Vom Museum gepflegt wird auch ein ganzer Bestand alter Nutzgebäude für die Arbeit auf den Alpweiden und für die Versorgung der letzten Bewohner. Hier, zwischen den Steinhäusern mit den roten Ziegeldächern und den gemütlichen Grotti, ist der richtige Ort für ein Abenteuer.
Vor den Toren von Chiasso im unteren Teil des Tals erreicht der Wanderer das Grotto del Mulino im Naturpark der Breggia-Schluchten, wo die typisch lokale Küche und ein köstlicher Weisswein aus dem Mendrisiotto serviert werden – die Südtessiner Region ist das ertragreichste Wein­anbaugebiet des Kantons.
Wir befinden uns hier im grössten Geopark der Schweiz. Die schwindelerregenden Schluchten wurden durch die Breggia geformt, die im Monte Generoso entspringt und das gesamte Tal durchquert, bevor sie in den Comer See mündet. Die Gesteinsschichten und Ammonit-Fossilien sind rund 400 Millionen Jahre alt. Da fühlt man sich als Mensch doch recht unbedeutend. Flussaufwärts bietet die Brücke von Castel San Pietro eine atemberaubende Aussicht auf dieses Geotop von nationaler Bedeutung. Beim Aufstieg wechseln Wälder und Dörfer einander ab. Versteckt im Grünen, abgeschieden im Schoss der Breggia, liegt die Mühle von Bruzella, eine der Perlen im Tal. «1983 erwarb das Museum das Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, dann wurde es über zehn Jahre lang restauriert», berichtet Paolo Crivelli. Der alte Müller lebte noch, und eine junge Frau aus dem Museumsausschuss erlernte das Handwerk der Müllerin. Seit 1996 ist Irene Petraglio nun für die wieder in Betrieb genommene Mühle verantwortlich. «Wir haben eine alte Maissorte wiederbelebt, den ‹Rosso del Ticino›, der jetzt in der Region sehr gefragt ist, um Polenta zu machen», erzählt Crivelli.

Das Museum ist das ganze Tal

In Cabbio angelangt, auf 667 Meter, verfällt man sofort dem Charme des Dorfs. Zwischen den wunderbaren Steinhäusern verliert sich der Besucher schnell im Labyrinth der engen, gepflasterten Gassen. Nur wenige Schritte von der Kirche entfernt, in einem ehemaligen Künstlerhaus, der Casa Cantoni, hat das Ethnografische Museum des Muggiotals zu Beginn des Jahrtausends seine Besucher­information eingerichtet. «Schon 1980, als das Tal durch den Kanton als Berggebiet anerkannt wurde, entstand die Idee, hier ein völkerkundliches Museum für die regionale Kulturförderung aufzubauen», berichtet Paolo ­Crivelli. «Eine Art ökologisches Freilichtmuseum, das die Kulturgüter in der Landschaft präsentiert.» Alle traditionellen Güter des Tals und des Monte Generoso wurden daraufhin erkundet, studiert, erfasst und gegebenenfalls restauriert: die «Neveres», die in den Boden eingelassenen steinernen Silos, die man im Winter mit Schnee füllte, um in der wärmeren Jahreszeit die Milch auf den Almen frisch zu halten, die «Roccoli», die Steintürme, mit denen man die Vögel anlockte, oder die «Graa», die Bauten zum Trocknen oder Räuchern von Kastanien. So kann man zurückblicken in eine Zeit, in der die Menschen auf dem Land den Sommer auf der Weide verbrachten und den Winter im Dorf.

Scudellate – Blick in die Po-Ebene

Der Aufstieg geht weiter. Hinter ­Muggio führt eine lange, gewundene Strasse nach Scudellate, dem höchstgelegenen Dorf des Tals, an den ­Hängen des Monte Generoso auf über 900 Metern gelegen. Oben angelangt wird man mit einem grandiosen Pano­rama belohnt. Der Blick wandert bis zur Po-Ebene und sogar bis nach Mailand. Bei guter Sicht. Diese Landschaft wurde schon von den ersten Touristen, den Engländern, die 1850 hierher kamen, sehr geschätzt.
In der Zollstation von Scudellate, einer verlassenen Zeugin der Geschichte der Grenzregion, erfährt der Wanderer alte Schmugglergeschichten. «Früher gab es die Grenze natürlich auch, aber irgendwie doch nicht», sagt Paolo Crivelli. «Menschen und Tiere bewegten sich hier frei, ohne auf den Grenzverlauf zu achten. Erst im Ersten Weltkrieg und noch mehr dann im Zweiten wurde die Grenze kontrolliert und teils unpassierbar.» Der Schmuggel blühte dort bis in die ­70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Kaffee und Zigaretten wanderten aus dem Muggiotal nach Italien und Güter wie Reis kamen von dort in die Schweiz. Von hier muss man nur eine Brücke überqueren, um Italien und das Dorf Erbonne zu erreichen. Dort, auf den Weiden der Alpe Squadrina und  Alpe Pesciò, leben rund zwanzig Haflingerpferde (Cavalli del Bisbino) während der Sommermonate in völliger Freiheit. Die Herde wandert vom Monte Bisbino auf den Monte Generoso. Hier liegt etwas Magisches in der Luft. Die Leute im Mendrisiotto sagen gerne, es sei diese ­spezielle schweizerisch-italienische Mischung, die die Region und den Charakter der Menschen präge – und nicht zu vergessen, die zauberhaften Grotti, in denen man sich nach langer Wanderung erfrischen kann.

www.mendrisiottoturismo.ch

Alain Wey ist freier journalist

Landschaften, eine kulturelle Identität und eine Stiftung

Erhaltung, Pflege und Aufwertung der schützenswerten Landschaft in der Schweiz ist das Ziel der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL). Sie wurde 1970 von Pro Natura, dem Schweizer Heimatschutz, der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung, dem Schweizer Alpen-Club und dem Schweizer Tourismus-Verband gegründet. Im Vordergrund ihrer Arbeit steht die Bewahrung unserer kulturellen Identität und unserer Geschichte in Einklang mit der Natur, der Menschheit und der nachhaltigen Entwicklung. Zu den Aktivitäten gehören unter anderem die Wiederinstandsetzung der Suonen, der alten Wasserkanäle, im Wallis, der Erhalt von Terrassenlandschaften, die Wiederbelebung von Kastanienselven oder der Alleenlandschaften. Seit 2011 verleiht die SL einen Preis für die «Landschaft des Jahres», um so die Aufmerksamkeit auf Schweizer Landschaften zu lenken, die bisher weniger bekannt und noch zu entdecken oder Bedrohungen ausgesetzt sind. Die bisher ausgezeichneten Regionen sind das Val Sinestra im Unterengadin, die Birspark-Landschaft, ein Gebiet entlang der Birs in den Kantonen Basel-Landshaft und Solothurn, die Campagne Genevoise und schliesslich das Valle de Muggio. www.sl-fp.ch

Kommentare

×

Name, Ort und Land sind erforderlich

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Geben Sie eine gültige E-Mail an

Kommentar ist erforderlich!

Sie müssen die Kommentarregeln akzeptieren.

Bitte akzeptieren

* Diese Felder sind erforderlich.

Kommentare :

  • user
    Eric Fiechter 27.10.2014 um 11:10
    It would be nice if the article could be sent on easily of published on facebook!

    The Website would just have a print option added, which could insert a copyright sign if desired!
    Übersetzung anzeigen
  • user
    Claudio Trabattoni 26.10.2014 um 18:38
    Sono orgoglioso delle mie origini in valle di Muggio
    Übersetzung anzeigen
top