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  • Reportage

Die Schweiz hat das dichteste Schienennetz der Welt

09.12.2022 – STÉPHANE HERZOG

Immer schneller und häufiger fahren die Züge in der Schweiz. Sie bieten eine Rekordanzahl an Verbindungen. Das Netz, das seit 175 Jahren auf- und ausgebaut wird, prägt auch das Leben im Lande. Und skurrile Bähnler-Wettbewerbe rücken die Stärken der Eisenbahn ins Scheinwerferlicht.

Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Unterwegs auf dem weltweit dichtesten Schienennetz.

Die Schweizer neigen dazu, zu glauben, Schweizerinnen und Schweizer sehen ihr Land gerne als einzigartig auf der Welt. Wenn es um die Schweizer Eisenbahnen geht, deren 175-jähriges Bestehen im August gefeiert wurde, haben sie wohl sogar recht. Das Schweizer Schienennetz ist das dichteste der Welt. Die Bevölkerungszunahme verlangt aber auch nach immer mehr Zügen. Und dank höherer Tempi können viele Strecken in immer kürzerer Zeit zurückgelegt werden. Und schliesslich staunen Touristen aus der ganzen Welt über die Qualität des Schweizer Schienennetzes, seine Schönheit und die technische Meisterleistung der Alpenüber- und -durchquerung.

Dies alles ruft geradezu nach Wettbewerben wie der Swiss Train Challenge: Da wird versucht, alle 26 Kantone in weniger als 24 Stunden per Zug zu durchreisen. Dazu genügt die rund 40 Franken teure Tageskarte, wie sie bei vielen Gemeindeverwaltungen erhältlich ist. 2015 gelang es einem Westschweizer TV-Reporter, die Challenge in 19 Stunden und 46 Minuten zu absolvieren. Dabei stützte sich das Fernsehteam auf die Berechnungen von Philippe Morf, einem Verkehrsplaner der Schweizer Bundesbahnen (SBB). 2016 nahmen vier junge Tessiner die Herausforderung erneut an und schafften es in 17 Stunden und 19 Minuten. Die Gruppe profitierte von den perfekten Anschlüssen im Land, in dem laut SBB 91,9 Prozent aller Verbindungen pünktlich sind.

Herausforderung für spielfreudige Doktoranden

2018 starteten ein deutscher und ein französischer Doktorand der EPFL die nächste Challenge. «Um den bestehenden Rekord zu brechen, mussten wir schweres Geschütz auffahren», erzählen Dirk Lauinger und Emmanuel Clédat. Die beiden Wissenschaftler setzten einen an ein geografisches Datensystem gekoppelten Algorithmus ein. Dieser schlug nach einer zehntägigen Berechnungszeit eine Reiseroute vor, die in 16 Stunden und 54 Minuten zu schaffen wäre. Die praktische Umsetzung allerdings scheiterte an einer Reihe von Verspätungen. Zudem sah die Route eine Strecke von 3,7 Kilometern zwischen Schaffhausen und Thurgau vor, die mit dem PubliBike zu fahren wäre. Doch diese Velos waren ausser Betrieb.

Die ehemaligen Forscher der EPFL stürzten sich dennoch in dieses Abenteuer, aus Liebe zur Bahn und besonders zum Schweizer Schienennetz. «Es geht uns um ein politisches Statement für eines der zuverlässigsten dezentralisierten Schienennetze», sagt Emmanuel Clédat und betont, dass eine Zugreise die Umwelt viel weniger belastet «als eine Fahrt zu viert im Auto». Beide Männer sind denn auch voller Bewunderung für die Netzdichte. «Da ist das französische Eisenbahnnetz ganz anders, denn es ist radial angelegt, mit Paris als Zentrum», sagt Emmanuel Clédat und verweist auf die vielen in seinem Land stillgelegten Nebenlinien. «Das Schweizer Netz ist so, wie es ist, weil die Schweiz keine Automobilindustrie hat», analysiert Dirk Lauinger. Im Vergleich dazu sei das deutsche Eisenbahnnetz zwar weniger zentralisiert als das französische, aber es funktioniere auch nur gerade mal so: «In der Schweiz sieht der Fahrplan nicht vor, dass die Züge immer mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fahren, was Raum lässt, um Verspätungen aufzuholen.»

Der Zug als Büro

Neue Technologien haben Züge in fahrende Büros verwandelt. «Eine tägliche Fahrt von eineinhalb Stunden ist akzeptabel, wenn man arbeiten kann», sagt Vincent Kaufmann, Professor für Mobilitätsanalyse an der EPFL. Für ihn persönlich stimme dies «aber nur mit einem Erstklass-Abonnement», ergänzt Pierre Dessemontet, Geograf und Studienkollege von Vincent Kaufmann.

«Früher bedingte ein Arbeitsplatz in Bern, dass man umzog und Deutsch oder Schweizerdeutsch lernte. Mit der Bahn rücken diese Erfordernisse, die ja auch Chancen und Bereicherungen sind, stärker in den Hintergrund.»

Vincent Kaufmann

Professor für Mobilitätsanalyse an der EPFL

Die beiden Experten untersuchten den Einfluss der Zürcher S-Bahn auf die Zersiedelung. «In den 1990er-Jahren wurden die länger werdenden Fahrten im Alltag mit dem Auto gefahren, ab 2000 dann aber mit der Bahn», erläutert Vincent Kaufmann. Dass auch der Schienenverkehr zur Zersiedelung beiträgt, ist jedoch keine neue Erscheinung: «Auch im 19. Jahrhundert führte der Auf- und Ausbau des Tramnetzes zu einer Ausbreitung der Städte», ruft Pierre Dessemontet in Erinnerung. Anders als das Auto, das zu einer Zersiedelung in alle Richtungen führt, «hat die Bahn dieser Entwicklung jedoch einen Rahmen gesetzt, denn die Stadtentwicklung konzentrierte sich um die Bahnhöfe herum.»

Die Bahn trennt Wohnen und Arbeiten

Schnelle Bahnverbindungen fördern die Sesshaftigkeit. Statt zum Beispiel wegen der Arbeit gleich nach Bern zu ziehen, kann jemand ganz gut weiterhin in Lausanne wohnen. Die Umweltbilanz bleibt dabei intakt, denn die Züge verursachen bloss 0,2 Prozent der CO2-Emissionen des Landverkehrs. Vincent Kaufmann befürchtet jedoch, dass die neue Sesshaftigkeit der Verständigungsfähigkeit im Lande zusetzt: «Früher bedingte ein Arbeitsplatz in Bern, dass man umzog und Deutsch oder Schweizerdeutsch lernte. Mit der Bahn rücken diese Erfordernisse, die ja auch Chancen und Bereicherungen sind, stärker in den Hintergrund.»

Wer die beeindruckenden Zahlen zum Schweizer Schienennetz liest, zieht rasch falsche Schlüsse. Übers Ganze gesehen nimmt die Nutzung des Autos weiter zu: Nach wie vor findet keine massive Verlagerung vom motorisierten Individualverkehr hin zum öffentlichen Verkehr statt. Gleichzeitig sind viele Züge während der Stosszeit überfüllt. «Die meisten dieser Fahrgäste sind Fernpendler. Es wäre also schwierig, in diesen Zügen auch noch alle unterzubringen, die heute aufs Auto setzen», folgert Vincent Kaufmann. Nach Schätzungen des Bundes dürfte die Nachfrage im Personenverkehr bis 2050 noch um 11 Prozent steigen. Mittlerweile hat die Corona-Pandemie jedoch zu veränderten Gewohnheiten geführt. «Es ist schwierig, die langfristigen strukturellen Auswirkungen der Pandemie, insbesondere auch im Bereich Telearbeit, vorauszusagen. Erst braucht es wieder einmal ein normales Jahr, aber da sind ja der Ukraine-Krieg, die Inflation, die Energiekrise», sagt der Geograf.

Die längste Strecke von West nach Ost: von La Plaine nach Scuol

Wie kann man die Grösse des Schweizer Eisen-bahnnetzes «erleben»? Wir haben die längstmögliche Strecke von Westen nach Osten abgefahren. Die 461 Kilometer lange Reise führt von La Plaine (GE) ins bündnerische Scuol-Tarasp, wo die Schienen enden. Die Fahrt begann frühmorgens im letzten Bahnhof vor der Grenze zu Frankreich. Von Genf nach Brig, der Schnellzug nach Venedig fuhr gerade vorbei. In Brig füllten sich nach dem Umsteigen die roten Waggons des Glacier Express mit Touristen aus der ganzen Welt. Die Reise nach Chur über den 2000 Meter über Meer gelegenen Oberalp-Pass vergeht wie im Flug. Unsere Tischgenossen waren ein Paar aus Atlanta und ein indischer Informatiker. Erstere erzählten von ihren «unzuverlässigen» Bahnen, der Inder von hoffnungslos überfüllten Zügen. In Chur stiegen wir um in den Zug nach Landquart, von wo es erst Richtung Südosten und dann durch den langen Vereina-Tunnel Richtung Osten ging. Im Unterengadin dann bestaunten wir Burgen in schwindelerregender Höhe und Orte mit klangvollen Namen: Sagliains, Lavin, Guarda, Ardez. Die Ansage für unsere Endstation Scuol-Tarasp erfolgte auf Rätoromanisch. Fast schon ein anderes Land, nach zehn Stunden Fahrt.

Das dichteste Netz der Welt

Mit durchschnittlich 159 Zügen pro Tag und Strecke einschliesslich Güterverkehr ist das Schweizer Schienennetz das dichteste der Welt. Gemäss dem Verband öffentlicher Verkehr hat es sich von 2000 bis 2019 beinahe verdoppelt. Diese Entwicklung erreichte 2019 mit 21,7 Milliarden gefahrenen Schienenkilometern ihren Höhepunkt. Die Zahl der Generalabonnemente (unbegrenzte Fahrten auf dem gesamten Netz) belief sich im Oktober auf 406 000, und es wurden 2,8 Millionen Halbtaxabonnemente verzeichnet.

(SH)

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Kommentare :

  • user
    Lorenz Meier, New Zealand 20.01.2023 um 00:58
    Die Schweizerische Eisenbahn ist in der Tat einzigartig; einzigartig, kompliziert, kundenfreundlich und einzigartig teuer! Öffentlicher Verkehr in der Schweiz ist für Touristen schlicht unmöglich und unbezahlbar. Dass man im 21 Jahrhundert ein Geographie-Quiz erhält, wenn man ein Zugbillet von A nach B will, ist zum Fremdschämen - glücklicherweise kann ich als Auslandschweizer moderne, effiziente und bezahlbare Bahnsysteme weltweit geniessen. Tatsächlich ist in meiner Erfahrung die SBB diesbezüglich das schlechteste Zugunternehmen weltweit!

    Die unnötige Verkomplizierung führt auch zu den überhöhten und intransparenten Preisen mit Angeboten, die einzigartig (dumm) sind wie das Halbtax, GA, Ostwind, Albispass, ZVV Zonen, 9-Uhr pass, etc.: Alle führen zu höheren Preisen und halten Gelegenheitsfahrer genauso wie Touristen aufgrund der Komplexität von der Benutzung des öffentlichen Verkehrs ab. Jeder andere öffentliche Verkehr weltweit funktioniert mit tab-in/tab-out Karten und fixen/erschwinglichen Preisen.

    Belustigung gefällig? Schauen Sie sich mal die SBB Webseite in English an, versetzen Sie sich in die Schuhe eines Touristen und versuchen sich ein triviales Ticket zu kaufen...

    Warum wollen die SBB dies nicht vereinfachen und teure Komplexitäten aus dem System eliminieren? Weil sie mit Scheuklappen unterwegs sind und zu viele Subventionen falsche Anreize schaffen!

    Die SBB ist ein typisches Beispiel für schweizerische Selbstgefälligkeit - statt sich kritisch zu hinterfragen und internationale Erfolgsmodelle zu übernehmen, ruht sich die SBB auf den weit zurückliegenden Erfolgen und massenhaften Subventionen aus. Es wird munter der Wasserkopf, Marketing und Administration ausgebaut, statt sich an moderne Kundenbedürfnissen zu orientieren.
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    • user
      Daniel Brunner, Schweiz 10.06.2023 um 09:03
      Haben Sie ein Beispiel?
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