Menu
stage img
  • Literaturserie

Franz Hohler | Der Bahnhof als erzählerischer Angelpunkt

24.03.2023 – CHARLES LINSMAYER

Erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass Franz Hohlers Romane «Es klopft», «Gleis 4» und «Das Päckchen» ein um das Thema Bahnhof kreisendes Gesamtkunstwerk sind.

Jahrzehntelang war Franz Hohler mit dem Cello und seinen Kabarettprogrammen unterwegs und führte seinem Publikum vor, wie gut sich Literatur, Gesellschaftskritik, Humor und Musik zu einem hinreissenden Soloauftritt verbinden lassen. 2023 ist er wieder en route, aber nicht als Kabarettist, sondern als Schriftsteller und Autor, der das Publikum anlässlich seines achtzigsten Geburtstags zu einem «Spaziergang durch sein Gesamtwerk» einlädt. Dabei könnte leicht vergessen gehen, was für ein grossartiger Romanautor der Verfasser der «Wegwerfgeschichten», der hintergründigen Erzählung «Die Rückeroberung» oder des unverwüstlichen «Totemügerli» auch noch ist. Eine Tatsache, die sich nun aber anhand einer Publikation auf vergnügliche Art nachprüfen lässt: Es ist die Gesamtausgabe der zwischen 2007 und 2017 erschienenen Romane in einem 640-seitigen Band mit dem Titel «Bahnhofsromane».

Am zufälligen Zipfel angepackt

Die drei Romane «Es klopft», «Gleis 4» und «Das Päckchen» belegen mit ihren überraschenden und oftmals fast unglaublichen Geschichten nicht nur Hohlers 2008 in einem Erzählband geäusserte These, dass «nichts so unwahrscheinlich ist, dass es nicht passieren kann», sie stehen auch für Hohlers Fähigkeit, Geschichten an irgend einem zufällig gewählten Zipfel anzupacken und zu einem überzeugenden Ganzen zu verknüpfen. Dieser Zipfel aber ist in den drei Romanen der Bahnhof: mal jener von Basel, mal jener von Zürich, mal jener von Bern, ein Schauplatz, der die Bücher als ein gemeinsames Element verbindet, ohne mehr als ein zufälliger Durchgangsort für Reisende zu sein.

Im Roman «Es klopft» von 2007 klopft eine unbekannte Frau im Bahnhof Basel an die Scheibe eines abfahrenden Zuges, in dem der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Manuel Ritter nach einem Kongress nach Zürich zurückkehrt. Er kann nicht erkennen, was die Frau will, aber Tage später taucht sie in seiner Praxis auf und bringt ihn dazu, ihr ein Kind zu zeugen. Die unglaublichen Verstrickungen, die sich aus diesem kuriosen Vorkommnis ergeben, erschöpfen sich dann aber nicht in einer spannenden Krimihandlung, sondern erlauben es dem Lesepublikum, auf bewegende Weise hinter die Fassade einer wohlhabenden gutbürgerlichen Familie an der sogenannten Goldküste am Ufer des Zürichsees zu blicken. Der Roman «Gleis 4» von 2013 beginnt damit, dass die Altenpflegerin Isabelle zufällig Zeugin des plötzlichen Todes eines ihr unbekannten Passanten im Bahnhof Oerlikon wird. Er entpuppt sich als eine eindringliche Auseinandersetzung nicht nur mit dem Thema Verdingkinder, sondern auch mit der Frage der Diskriminierung von Personen mit afroeuropäischem Hintergrund.

Bekenntnis zum Schreiben

«Das Päckchen» von 2017 schliesslich beginnt mit einem seltsamen Anruf in einer Berner Telefonzelle, der sich um eine geheimnisvolle mittelalterliche Handschrift dreht, und führt dann auf vertrackte Weise nicht nur in den Bereich des Alpinismus, sondern auch ins Mittelalter zurück, wo sich unter Mönchen, Schreibern und Kopisten eines Klosters und unter reisenden Vaganten und Nonnen eine zärtliche Liebesgeschichte – eine der schönsten, die Hohler geschrieben hat – abspielt. Und die eigentliche Quintessenz? Die Liebe zum Buch als einmaliges und unverlierbares kulturelles Gut – und das Bekenntnis zum Schreiben als jene vielfältige und unerschöpfliche mediale Gestaltungs- und Erfindungsmöglichkeit, der weder Film, noch Video, noch Computerspiel am Ende die Stange halten kann. Ein Bekenntnis, für das Franz Hohler als einer der grossartigsten und beliebtesten Schriftsteller der Schweiz mit seinem ganzen vielfältigen Werk lebenslang Zeugnis abgelegt hat.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.

Bibliografie: Franz Hohler; «Die Bahnhofsromane», btb-Taschenbuch, ISBN 978-2-442-77299-5, Frankfurt, 2023
 

«Bei der Geschichte um die mittelalterliche Handschrift geht es um den Respekt vor der damaligen Zeit. Das ist ein Motiv, das mich immer wieder beschäftigt. Viele Dinge, die heute passieren, haben mit früheren Geschichten zu tun, die niemand von uns erlebt hat. (...) In meinem Buch wird eine sehr alte Rechnung beglichen. Wahrscheinlich sitzen wir alle etwas zu fest auf unserem ­gut organisierten, computerisierten, fahrplanmässigen Lebenslauf.»

Franz Hohler

2017 in einem Interview zu «Das Päckchen»

Kommentare

×

Name, Ort und Land sind erforderlich

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Geben Sie eine gültige E-Mail an

Kommentar ist erforderlich!

Sie müssen die Kommentarregeln akzeptieren.

Bitte akzeptieren

* Diese Felder sind erforderlich.

top