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  • Reportage

Null Dezibel: Das Musikfestival, das geplant wurde, um gar nicht stattzufinden

07.06.2021 – Marc Lettau

Mit seinen 300 Bands war es das grösste Musikfestival, das in der Schweiz je angesagt wurde. Und das Ghost-Festival, so sein Name, klang sehr extrem, denn es wurde organisiert, um gar nicht stattzufinden. Dennoch kauften Zehntausende Fans für bis zu 100 Franken ein Ticket. Ein Experiment der reinen Imagination, ein Spektakel der stummen Stimmen.

Festivalplakate sehen oft so aus: Name steht neben Name, in fetten Lettern die Stars, in viel kleinerer Schrift die Sternchen. Seit Monaten hängen in der Schweiz keine solchen Plakate: Die Kulturlokale sind geschlossen, die Festivals abgesagt. Wir kennen den Grund.

Doch Anfang Jahr hängt es plötzlich überall, das Plakat, das alles auf einmal verspricht. Stephan Eicher! James Gruntz! Züri West! Lo&Leduc! Stefanie Heinzmann! Streng alphabetisch geordnet und ohne jede typografische Hervorhebung werden 300 Bands angesagt, grosse, kleine, kleinste. Ein helvetischer Superlativ. Ghost-Festival nennt sich das Event.

Die Plakate werden angeschlagen, obwohl landesweit Treffen mit mehr als fünf Personen verboten sind. Die Organisatoren verweisen auf ihr «ausgeklügeltes Schutzkonzept», das ihnen «bis zu acht Millionen Gäste» erlaube. Ihre Volte: Sie organisieren das Festival, um es genau am 27. und 28. Februar 2021 nicht stattfinden zu lassen: Es soll nämlich klingen, wie es die ganze Schweizer Musikwelt derzeit tut. Also gar nicht.

Es sind schliesslich 35 000 Fans, die trotz des geisterhaften Wesens des Festivals bis zu 100 Franken für ein Ticket hinblättern. Sie vertrauen dem simplen Businessplan: Am Schluss wird nichts in der Kasse bleiben, was reinkommt, geht wieder raus – verteilt an die Musikerinnen, Musiker und den technischen Staff, den jedes Festival braucht. Den Fans erlaubt das Ticket nirgends einen Eintritt. Es garantiert ihnen nur reine Imagination und gesteigerte Sehnsucht nach real erlebbarer Kultur.

Stephanie Szanto. Fotografin: Danielle Liniger

Büro statt Bühne

Wie aber gehen Musikerinnen und Musiker mit dem Festival um? Mit dabei und doch nicht auf der Bühne ist etwa die Mezzosopranistin, Songwriterin und Komponistin Stephanie Szanto. Für sie ist freilich nicht nur das besagte Festival irreal, sondern schlicht jedes Engagement der letzten zwölf Monate: Die «voll ausgebuchte Agenda» wurde zur komplett leeren. Für die freischaffende Musikerin, die jeweils auf verschiedenste Bühnen- und Konzertauftritte hinarbeitet, ist die Pandemie «der Supergau»: «Ich fiel komplett aus dem Rahmen», sagt Szanto. Mit einem Schlag kippten in menschlicher, künstlerischer und materieller Hinsicht wichtige Pfeiler ihrer Lebensgrundlage weg. Dabei verschwinde jegliche Perspektive, sagt Szanto, zumal der völlige Stillstand des Kulturlebens «überhaupt nichts Inspirierendes an sich hat, denn es entsteht ein lähmendes Vakuum». Die plötzlichen existenziellen Nöte füllten den Alltag mit rein materiellen Fragen: «Wie bezahle ich die Miete?» Allein die akribische Dokumentation der Gesuche um Erwerbsausfallentschädigungen führe zum Vollzeitbürojob vor dem Computer: «Raum oder Energie für Kreativität bleibt da nicht.»

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Zum Beispiel «Kummerbuben»: Die Berner Rumpel- rocker gaben am Ghost-Festival keinen Einblick in ihr neues Album «Itz mau Apokalypse» (Jetzt mal Apokalypse). Foto zvg

Bekümmerte Buben

Mit dabei und ebenfalls keine Sekunde lang auf der Ghost-Festival-Bühne anzutreffen ist die Berner Rumpelrock-Band «Kummerbuben». Die Band kennt viele renommierte, reale Festivalbühnen. Doch derzeit blickten auch sie auf ein praktisch konzertfreies Jahr zurück, sagt Urs Gilgen (Gitarre, Banjo, Mandoline). Andere behaupteten, das Pandemiejahr habe sie beflügelt. In ihrem Fall treffe das nicht zu, sagt Gilgen: «Wir sind eine Band, die Rückenwind braucht, also konkrete Ziele. Wozu also proben?» Und «Pandemiemusik» wolle die Band keine machen: «Das finden wir sehr unnötig.» Gilgen skizziert das Deprimierende des permanent Unverbindlichen: Werde ein Konzert zweimal, dreimal, viermal auf ein immer ferneres Datum verschoben, «dann fragt man sich, ob die Suche nach einem weiteren Ersatzdatum überhaupt Sinn macht».

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Das Dunkel am Ende des Tunnels

Verschieben, vertagen, trostloses Vertrösten. Die Zeit verfliegt. Mezzosopranistin Stephanie Szanto spricht längst nicht nur von einem verlorenen Jahr, sondern von verlorenen Jahren – im Plural. Die ganze Kulturbranche habe enormen Schaden genommen. Weil zugleich öffentliche Gelder für den Kulturbereich wegbrechen, bleibe völlig unklar, ob sich Bühnen, Konzertanbieter und (nicht fiktionale) Festivals wieder erholten: «Für Musikerinnen und Musiker heisst das: Sie erhalten auf lange Sicht kaum noch Anfragen.» Statt Licht am Ende des Tunnels sieht sie dort eher diffuse Dunkelheit: Sie erkenne nichts, mit dem sie als Sängerin rechnen dürfe, es sei ein ganz gründlich «perspektivenloser Zustand». Dieser Entzug von Perspektive, sagt Szanto, sei zwar ein allgemeiner Wesenszug der Pandemie, «nur spürt man ihn als Kulturschaffende wohl besonders unmittelbar».

Zum Beispiel die Zürcher Band «Sputnik Sushi»: Ohne einen Ton zu spielen, schafften sie es erstmals auf Platz 1 der Charts – als Teil des «Ghost Orchestra». Foto zvg

Das Plakat als Gedenkstätte

Die Zürcher Band «Sputnik Sushi» zählt zu den vielen kleinen Bands am Festival der stummen Stimmen. Die vierköpfige Truppe beschallt mit Vorliebe kleinere Konzertlokale mit ihrem Mix aus Americana-Einflüssen, Coverversionen der 40er- bis 90er-Jahre und kantigen Eigenkompositionen. «Sputnik Sushi»-Kontrabassist Daniel Reichlin gehört als Musiker zu den beinahe Glücklichen: Er zieht eine Zusage für ein Konzert im September 2021 hervor. Allerdings trägt sie den Vermerk, es stehe nicht fest, ob der Anlass stattfinden könne. Reichlin sinniert darüber, wie viele der auf dem Ghost-Festival-Plakat plakativ vereinten Formationen nach der Pandemie noch existieren werden. Kleine, ambitionierte Amateurbands wie die «Sputnik Sushi» seien kaum gefährdet, sagt Reichlin. Solche Bands lebten für die Musik, aber nicht von der Musik. Kaum gefährdet seien auch die ganz grossen Namen: «Unter riesigen Druck geraten aber all die jungen und sehr guten, professionellen Musikerinnen und Musiker, die vielleicht noch am Anfang ihrer Karriere stehen und die es in wenigen Jahren unbedingt bräuchte.» Sei deren Zukunft gefährdet, dann sei dies «ein Qualitätsproblem» für die ganze Kulturszene. Deshalb verzichten die «Sputnik Sushi» wie viele andere Ghost-Bands auf ihre Gage. Sie kommt anderen zugute: «Man muss jene stützen, die derzeit rein gar nichts verdienen.»

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Von Geld und Gegenleistung

Auf dem chefredaktoralen Pult der «Schweizer Revue» liegen zwei käuflich erworbene Tickets fürs Ghost-Festival – und einige wenige Zeitungskritiken, die mit dem Anlass hart ins Gericht gehen. Von «Betrug am Publikum» ist die Rede und davon, dass man den Musikschaffenden «die Stimme nimmt, statt ihnen eine zu geben». Mehr noch: Das Ghost-Festival sei bloss eine «rebellisch getarnte Bettelaktion» der schamlosen Art, findet etwa die «Weltwoche». Wir fragen nach: Warum raufen sich die 300 Bands nicht zu einem gigantischen Streaming-Anlass zusammen?

Perfekter Ausdruck des Nichts

«Natürlich würden wir lieber live spielen als fürs Stillsein wahrgenommen zu werden», sagt Urs Gilgen von den «Kummerbuben». Aber aus seiner Sicht ist es richtig, allein den Solidaritätsgedanken in den Mittelpunkt zu stellen: «Und es ist nicht irgendeine Solidaritätsaktion für die Musik, sondern die grösste seit Ausbruch dieser Pandemie. Und sie ist aus der Zivilgesellschaft hervorgegangen und wird von ihr getragen.»

Derweil entgegnet «Sputnik Sushi»-Kontrabassist Reichlin: «Was uns als Musiker umhaut, ist der fehlende Kontakt mit dem Publikum.» Was Musik wirklich ausmache, entstehe also live. Darum wäre seine Band für ein Streaming-Event nicht zu gewinnen gewesen. Nur ein stummes Festival widerspiegle perfekt, was in der Schweizer Musikszene derzeit passiere: «Vorwiegend nichts.»

Mehr als reine Symbolik

Ein inszeniertes Nichts bleibt doch blosse Symbolik? Stephanie Szanto verneint: «Das Festival ist weit mehr als Symbolik», sagt Szanto. Sie sieht es eher als ein gemeinsames Aufrichten «in einer Katastrophe, die noch lange nicht zu Ende ist», als Akt der Solidarität. Müsste man als Akt der Solidarität nicht vermehrt Musik ins Netz stellen? Szanto verneint dezidiert:

«Musik ist etwas Lebendiges und lebt auch vom Austausch mit dem Publikum, sie ist auf Livepublikum angewiesen.»

Stephanie Szanto

Streaming könne somit kein Ersatz für Konzertkultur sein. Und wenn sich immer mehr Menschen ans kostenlose Streaming von Musikerinnen und Musikern gewöhnten, sei das problematisch: «Das vermittelt fälschlicherweise, Musik sei eine Gratiskultur. Das ist sie natürlich nicht.»

Ein Festivalteam, das wegen der Maskenpflicht nur als Pappfiguren zusammenstehen kann: Das Kollektiv machte das Festival hinter der – unsichtbaren – Bühne überhaupt erst möglich. Foto zvg

Null Lampenfieber

Wir nehmen die Lektion zur Kenntnis: Es braucht Begegnung, um das belebende Knistern zwischen Menschen, die Musik machen, und Menschen, die dieser Musik ihr Gehör schenken, entstehen zu lassen. Geisterfestivals kommen deshalb gut ohne Streaming aus. Wie aber sieht es denn letztendlich aus Sicht der Musikschaffenden aus, das ganz konkrete, stumme Festivalwochenende? Daniel Reichlin spricht von einem «schwierigen und etwas deprimierenden Wochenende». Immerhin sei es der erste Auftritt komplett ohne Lampenfieber: «Allerdings sind es gerade das Lampenfieber, die Vorfreude, der Stress und der Soundcheck, die die Intensität eines Auftritts ausmachen.» Nicht klangfrei bleiben die zwei Festivaltage bei Urs Gilgen: Er macht mit seinen Kindern daheim etwas Musik. Und Stephanie Szanto ist zum Zeitpunkt ihres Festivalauftritts im Gebirge und merkt dort, «wie weit weg ich vom Konzertegeben bin».

Aus dem Nichts an die Spitze der Schweizer Album-Charts: Der skurrile Tonträger mit fast 100 Geistergeräuschen des imaginären «Ghost Orchestra». Foto zvg

Geisterhaftes in den Charts

Ganz klang- und spurlos bleibt das Festival nicht. Die Geistertruppe wirft eilig ein kurioses Album auf den Markt, ein Album voller skurriler Geistergeräusche, intoniert von 200 der 300 Bands. Es ist ein stark gewöhnungsbedürftiger Tonträger, eine Art künstlerische «Missstimmung» zur Beschreibung der Lage. Eine Woche später führt das «Ghost Orchestra»Album die offizielle Schweizer Hitparade an. Wer bis anhin frotzelte, ein Nichtfestival könne nicht wirklich ein Rekordfestival sein, wird spätestens jetzt eines Besseren belehrt: Noch nie waren 200 Bands gleichzeitig auf Platz 1 der Charts.

Nachlese

Braucht es ein zweites Ghost-Festival? Der Grundtenor der Szene lautet: «Lieber nicht.» Und das Schweizer Parlament zimmert in Eile eine Versicherung, damit sich Veranstalter trotz anhaltender Ungewissheit ans Planen des Schweizer Festivalsommers 2021 machen können. Die politische Antwort auf die Frage nach einem zweiten Ghost-Festival ist also ein hoffungsvolles: «Nicht nötig.» Ob Hoffnung angezeigt ist, ist noch offen. Inzwischen verzichten drei der grössten, traditionellen Open Airs – St. Gallen, das Gurten-Festival bei Bern und das Paléo-Festival in Nyon – auf eine Ausgabe 2021. Ganz pessimistisch ist die Szene trotzdem nicht: Möglicherweise naht ein Sommer der vielen spontanen, kleinen, geistreichen Konzertauftritte.

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Kommentare

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Kommentare :

  • user
    Renata Neuweiler, Griechenland 09.06.2021 um 14:14

    Ich stimme mit den Musikern überein. Musik lebt vom Kontakt mit dem Publikum, also mit den Menschen. Diese Pandemie hat uns jeglicher Art von sozialen Kontakten beraubt. Cafés, Restaurants, Konzertsääle, Theater, ja sogar Parks waren geschlossen oder sind es zum Teil noch. Sich mit Familienmitgliedern oder gar Freunden zu treffen praktisch unmöglich.


    Zu entstandenen den finanziellen Problemen kommen auch noch psychologische dazu; nämlich die Vereinsamung! Insbesondere Alleinstehende oder ältere Menschen leiden unter dem Ein- und Ausgeschlossensein.

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