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«Wie die Arbeit an einer Skulptur»

22.01.2018 – Benjamin Steffen

Er ist nicht nur der wohl prominenteste Schweizer Skirennfahrer der Geschichte, er ist auch ein bedeutender Pistenbauer. Jetzt baut Bernhard Russi in Südkorea die Olympia-Abfahrt.

Schweizer Revue: Bernhard Russi, Sie bauen die Piste der Olympia-Abfahrt von Pyeongchang, die in Jeongseon stattfindet. Stimmt es, dass dieser Prozess schon mehr als anderthalb Jahrzehnte vorher begonnen hat, nämlich im Jahr 2001?

Genau genommen liegen die Anfänge noch weiter zurück. In den Neunziger-Jahren war ich oft in Südkorea, weil sich die Südkoreaner eine weltcupwürdige Piste für den Slalom und Riesenslalom wünschten. Später sagte mir ein Mitglied des koreanischen olympischen Komitees, sie möchten dereinst Olympische Winterspiele durchführen. Mit Blick auf eine Abfahrtsstrecke sagte ich: «Dafür braucht es aber einen Berg». Es schien unvorstellbar, dass es in Südkorea einen Berg gäbe, der für eine Olympia-Abfahrt tauglich wäre und die geforderte minimale Höhendifferenz von 800 Metern aufweisen könnte. In Korea sind die meisten Berge wie eine Pyramide, mit vier Graten, die zu einem Spitz hochgehen. Es gäbe also einzig die Möglichkeit, einem Grat nachzufahren, was keine grossartige Abfahrt wäre.

Und was war die Lösung?

Um das Jahr 2000 herum kam der konkrete Hinweis, dass es in Jeongseon einen Berg gebe mit etwas anderem Charakter und der nötigen Höhendifferenz. Ich studierte das Kartenmaterial und reiste hin, und am 20. August 2001 erfolgte die erste Inspektion. Wir marschierten einigen Trampelpfaden entlang, die wohl einzig von Tieren oder Förstern stammten.

Wie gross ist eine solche Inspektionsgruppe?

Wir waren vielleicht zehn, zwölf Leute. Die eine Person hatte Ahnung vom Berg, die andere vom lokalen Wetter, die dritte von der Geologie. Und wichtig ist in solchen Fällen immer, dass auch Leute vom Naturschutz dabei sind, die frühzeitig darauf hinweisen könnten, wo zum Beispiel schützenswerte Bäume stehen.

Was ist der erste Schritt beim Bau einer Piste?

Es gibt zwei wichtige Punkte. Erstens: Gibt es bereits Kartenmaterial? Bei einem Massstab von 1:10 000 lässt sich das Gelände schon relativ gut herauslesen. Und danach muss das Gelände schlicht und einfach abmarschiert werden. Ich gehe mögliche Streckenführungen ab und markiere einzelne Bäume mit farbigen Bändern. Diesen Routen wiederum geht später jemand mit einem GPS nach, woraus letztlich ein Plan mit fünf bis sechs Linien entsteht.

Wie muss man sich diese Arbeit vorstellen?

Ich würde sagen: Es ist wie die Arbeit an einer Skulptur. Du weisst, wie eine Piste aussehen soll, aber du musst immer wieder Änderungen vornehmen, immer wieder daran modellieren. Wenn du glaubst, du hast die Linie, marschierst du sie noch einmal ab, damit du den Charakter des Bergs wirklich möglichst gut kennst. Du darfst dem Berg nichts aufzwängen, das nicht funktioniert.

Gab es schon einmal einen Ort, an den Sie hinkamen und sagten: Pardon, an diesem Berg geht gar nichts?

Ich erinnere mich an Quebec. Dort hätte vom Gelände her zwar Potenzial bestanden für eine kurze Abfahrt, aber es fehlte der nötige Höhenunterschied von 800 Metern. Die Kanadier schlugen vor, die fehlende Höhe oben anzusetzen. Sie hätten einen See ausgehoben und das ausgehobene Material oben angesetzt. Stellen Sie sich vor: ein mehr oder weniger ausgeglichener Höhenzug mit einem künstlichen Zapfen von 100 Metern! Nicht bloss ich entschied dagegen, auch der Skiweltverband FIS beriet darüber – und das Fazit war: Die FIS darf nicht anfangen, Berge in solchem Ausmass künstlich zu verändern.

Gibt es bei uns noch einen Berg, auf den Sie gerne eine neue Abfahrtspiste bauen möchten?

Eigentlich nicht, ich bin eher der Meinung, dass es bei uns mittlerweile genügend gute Skigebiete gibt. Andererseits ist es meines Erachtens weder verboten noch falsch, wenn in China ein neues grosses Skigebiet gebaut wird, in dem mit Blick auf die Winterspiele 2022 auch eine weltcuptaugliche Abfahrt entsteht. Denn so etwas gibt es in China bisher nicht. In Russland war es vor den Olympischen Spielen von Sotschi ähnlich. Ich erinnere mich, wie ein führender Politiker aus Sotschi von einem Schweizer Journalisten gefragt wurde, ob er kein schlechtes Gewissen habe, ein Skigebiet zu bauen. Der Politiker entgegnete: «Sie sind Schweizer, oder? Wie viele Skigebiete haben Sie?» Der Schweizer sagte: «Vielleicht fünfzig, sechzig, siebzig.» Und danach der Russe: «Also, dürfen wir auch eines haben?»

Was sagt uns das?

Es sind fast schon Glaubensfragen. Es gibt Leute, die sagen, der Bau von Skigebieten sei Blödsinn, Skifahren ohnehin, der moderne Tourismus ebenso. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Natur in einem gewissen Mass dazu da ist, damit sich der Mensch in ihr bewegen kann – und dass der Tourismus in Hochtälern eine gewisse Lebensexistenz gewährleistet. Wenn man diesem Credo zustimmt, muss man auch bereit sein, gewisse Eingriffe zuzulassen.

Benjamin Steffen ist Sportredaktor bei der Neuen Zürcher Zeitung

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