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  • Literaturserie

Albert Bächtold | Pjotr Ivanowitsch spricht Klettgauer Dialekt

18.09.2019 – Charles Linsmayer

Der Schriftsteller Albert Bächtold erlebte als Auslandschweizer die russische Revolution und schilderte seine Erlebnisse in Schaffhauser Mundart.

Man hätte jede Stelle zweimal besetzen können: So gross war der Lehrerüberschuss, als der 22-jährige Primarlehrer Albert Bächtold 1913 die seine aufgab und nach zwei Jahren Lehramt in Merishausen die Einladung eines Auslandschweizers annahm und als Hauslehrer auf das Adelsgut Baranowitschi in der Nähe von Kiew zog. Und da erlebte er nun die dramatischsten Tage der jüngeren russischen Geschichte: den Sturz des Zaren, das Scheitern des republikanisch gesinnten Kerenski, die Rückkehr Lenins und die Revolution, die ihn nicht etwa zum Kommunisten, sondern zu einem Gegner des Marxismus machte. Mit dem Zug, den Lenin den Auslandschweizern bereitstellte, kehrte er im Oktober 1918 in die Schweiz zurück und setzte sich da für die aus Russland vertriebenen Landsleute ein. Um Geld für sie zu sammeln, reiste er schliesslich nach Amerika, hielt Vorträge, besuchte das berüchtigte Sing-Sing-Gefängnis und kam per Zufall in Berührung mit einer Firma, die unter dem Slogan «Das Kino in der Westentasche» transportable Kinoprojektionsapparate anbot. Bächtold begeisterte sich dafür und liess sich als Schweizer Vertreter für das Unternehmen anheuern. In kurzer Zeit kam er zu Reichtum, fuhr das teuerste Auto, das es gab, und heiratete in zweiter Ehe das schönste Mannequin des Modehauses Grieder. Bis der Traum in der Wirtschaftskrise 1929 platzte. Bächtold stand plötzlich mausarm und allein da und versuchte, als Journalist durchzukommen.

Begeistert für Knut Hamsun, begann er auch zu schreiben, schrieb den Roman «Der grosse Tag» und las im Dichterkreis in Rudolf Jakob Humms Rabenhaus daraus vor. Der Abend wurde zu einem Flop, und weil er zuvor für ein Dialektbuch ein Kapitel daraus in die Klettgauer Mundart übertragen hatte, schlugen ihm die Anwesenden vor, ganz zum Dialekt überzugehen. So entstand sein erstes Mundartbuch, «De Tischtelfink», eine Hommage an seinen früh verstorbenen Vater, und er schickte das Manuskript jahrelang erfolglos von Verlag zu Verlag, bis 1939 ausgerechnet die linke Büchergilde Gutenberg, die im Zeichen der geistigen Landesverteidigung auf Heimatliches setzte, das Buch veröffentlichte. Nun folgten weitere Werke in Klettgauer Dialekt, die unter Titeln wie «De Hannili Peter» (die Geschichte seiner Kindheit), «Wält uhni Liecht» (der Bericht über eine Augenoperation), «De Studänt Räbme» (die Schulzeit an der Kanti Schaffhausen) oder «De ander Wäg» (die Jahre in Zürich und der Entscheid für den Dialekt) sein eigenes Leben nacherzählten. Am spektakulärsten aber erwies sich, was Bächtold unternahm, als er 1950 unter dem Titel «Pjotr Ivanowitsch» in zwei umfangreichen Bänden sein russisches Abenteuer von 1913–18 zu Literatur machte. Auch in dieses Buch flossen zwar autobiografische Elemente, aber es findet sich da auch eine hochdramatische Lovestory, die frei erfunden ist. Höchst beachtlich ist jedenfalls, wie in dem Roman die russische Landschaft und die russische Gesellschaft auf authentische Weise aufleben und Bächtold sich nicht gescheut hat, um das Russische nachzuempfinden, dem Dialekt neue Wörter, Satzformen und Gesprächsfolgen zu schenken. Sogar Menschen mit fremdländischem Akzent und solche mit Sprachfehlern sind mühelos erkennbar, obwohl die Russen doch alle lupenreines Klettgauerdeutsch sprechen.

Kein Heimweh nach Amerika

Unter dem Titel «De Silberstaab» hat Bächtold 1953 auch den Amerika-Aufenthalt in den Klettgauer Dialekt heimgeholt, aber dem Buch fehlt die Intensität und Herzlichkeit des Russlandbuches, was durchaus zu verstehen ist, wenn man hört, wie verschieden Bächtold die beiden Länder beurteilte: «Amerika bewunderet me und vergissts. Me chunnt ka Haaweh über nach im. Russland hät me lieb. Und öppis, wo me lieb hät, vergisst me nie.»

Insgesamt 14 Bücher in Klettgauer Dialekt hinterliess Albert Bächtold, als er 1981 90-jährig starb. Bücher, die, obwohl ausserhalb Schaffhausens sich kaum jemand damit befasst, im Verlag Meier Schaffhausen auch heute noch alle bestellt werden können. Nach Bächtolds Tod hat sich nämlich herausgestellt, dass er in Meilen ein grosses Landstück besass, dessen Verkauf die Voraussetzung dafür lieferte, dass seine Werke, immer wieder neu aufgelegt, auch in 500 Jahren noch lückenlos im Handel greifbar sein werden.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.

«Vor üüsene Auge, liebi Lüüt, im hällschte Tagliecht, spilt sich s Stäärbe vo amm von wärtvollschte Kultuurgüetere ab – und niemer rüert en Finger dergege. Für alls hät me Gält, für alls Inträssi und Ziit – für d Muetersprooch ka Minute und ka guet Wort.»

Aus Bächtolds Ansprache zur Verleihung des Bodensee-Literaturpreises 1966

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    Mascha M. Fisch, Mayen, Deutschland 09.10.2019 At 15:31
    Als ich den Bericht über Albert Bächtold las, traten mir - ehrlich gestanden - Tränen in die Augen. Erinnerungen an längst vergangene Zeiten kamen mir in den Sinn. Damals, ich war 16 Jahre alt, besuchte ich die Handelsschule in Zürich. Da ich in Schaffhausen aufwuchs, fuhr· ich zusammen mit einer Freundin jeden Morgen früh mit dem Zug nach Zürich und am Abend wieder zurück. Während einer solchen Fahrt kamen wir mit einem Herrn, so um die 50, ins Gespräch. Er erzählte uns, dass er Bücher schreibe. Wir fanden das wahnsinnig interessant. Und wir baten unsere Deutschlehrerin, Herrn Bächtold zu einer Lesung in unserer Schule einzuladen. Er kam der Bitte gerne nach und von nun an besuchten wir zwei ihn des Öfteren. Da unser Zug immer erst um 18 Uhr Richtung Schaffhausen fuhr, hatten wir viel Zeit und von der Schule aus war es nicht weit zum Limmatquai hinunter. "Komm, besuchen wir Herrn Bächtold", sagten wir jeweils zu einander, wenn wir die Schulsachen zusammenpackten. Er wohnte, ich glaube es war am Hechtplatz, in einer kleinen Dachwohnung. Es waren wundervolle Stunden, wir saßen bei ihm und hörten mit großen Ohren seinen Erzählungen über sein interessantes Leben zu. Er freute sich immer sehr, wenn wir an seiner Tür klingelten, nicht nur weil wir alle drei Schaffhauser-Dialekt sprachen, sondern auch, so wie ich es heute einschätze, er sehr einsam war.
    Dann kam das Handelsdiplom und unser Leben als Erwachsene begann. Ich zog sehr bald nach Deutschland, wo ich bis zum heutigen Tage noch bin. Meine Freundin ist schon vor vielen Jahren gestorben und ich kann also in meiner gemütlichen Dachwohnung mit Aussicht auf die Dächer der kleinen Stadt Mayen zu niemandem mehr sagen: "Chum, me gönt de Herr Bächtold go bsueche." - Alles was bleibt ist die Erinnerung.
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