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Die ‹Corona-Schule› gefährdete Chancengleichheit

22.07.2020 – Mireille Guggenbühler

Rund eine Million Schweizer Schülerinnen und Schüler im Volksschulalter mussten während des Lockdowns zuhause lernen. Gleiches galt für 400 000 Lernende an weiterführenden Schulen oder Berufsschulen. Der Fernunterricht hat sie alle herausgefordert. Etliche profitierten von ihm – aber längst nicht alle.

Die föderalistisch-unübersichtliche Schweizer «Corona-Schule»

In den Tagen nach dem 16. März war die Mailbox vieler Eltern plötzlich voll, voll von Mails der Lehrerinnen und Lehrer ihrer Kinder. Am 16. März wurden nämlich schweizweit alle Schulen geschlossen und es galt in aller Eile, einen Fernunterricht aufzubauen. Doch die Unterlagen und Arbeitspläne, die den Eltern und ihren Kindern zugestellt wurden, unterschieden sich nicht nur von Kanton zu Kanton, sondern von Schule zu Schule, von Klasse zu Klasse.

Es gab Lehrkräfte, die mit ihren Schülerinnen und Schülern täglich per Video arbeiten wollten. Andere erwarteten von den Kindern die selbstständige Erarbeitung grosser, fächerübergreifender Dossiers. Hier die Schulen, die sich stark auf die traditionellen Hauptfächer fokussierten. Da die anderen, die in der angespannten Zeit auch Wert auf die kreativen und musischen Bereiche legten. Kurz: Jede Lehrerin, jeder Lehrer packte den Fernunterricht anders an. Der Schweizer Föderalismus zeigte sich zu Beginn der «Corona-Schule» in einer sehr ausgeprägten Form.

Start ohne klare Vorgaben

Für die Eltern, die gerade selber unter dem Eindruck der coronabedingten Umbrüche in ihrer Arbeitswelt standen, war es schwierig, den Überblick in Sachen Schule zu behalten. Nicht nur die Ziele, Schwerpunkte und Regeln des Fernunterrichts waren alles andere als einheitlich. Selbst auf die Frage, ob und wie die Schülerinnen und Schüler in der Corona-Zeit beurteilt und benotet werden sollten, gabs unterschiedliche Antworten. So war zu Beginn der Fernschule unklar, ob Abschlussprüfungen, etwa die Maturitätsprüfungen, überhaupt stattfinden würden. Alles in allem kein Start mit klaren Vorgaben.

Kinder und Eltern lernten die Doppelbelastung von Homeschooling und Homeoffice kennen. Foto Keystone

In normalen Zeiten zeigen sich oft die Stärken der dezentralen und sehr föderalistisch geprägten Schweizer Schullandschaft. Jetzt, in der Krise, offenbarten sich einige ihrer Schwächen. Die qualitativen Unterschiede zwischen den Schulen wurden grösser und die Folgen dieser Unterschiede ebenfalls. Diesen Schluss ziehen die Verfasserinnen und Verfasser des sogenannten Schul-Barometers der Pädagogischen Hochschule Zug. Dieses Barometer zeigt gestützt auf systematische Befragungen das Stimmungsbild in den Schulen der Schweiz, Deutschlands und Österreichs und kommt für die letzten Monate zum Schluss: Die Fernschule während des Lockdowns beeinträchtigt möglicherweise die Chancengleichheit der Schülerinnen und Schüler. Konkret befürchten die Forschenden aus Zug, dass Schülerinnen und Schüler aus sozial und wirtschaftlich belasteten Familien zu den Bildungsverlierern der Corona-Zeit gehören werden. Wer in beengten Wohnverhältnissen lebe, weder von Eltern noch von Geschwistern Unterstützung erhalte und nicht über die geeigneten technischen Mittel verfüge, drohe beim Fernunterricht schulisch ins Hintertreffen zu geraten. Es zeigten sich «Schereneffekte», also ein Auseinanderdriften der Ausgangslage: Ein Sechstel der Schülerschaft lernte dramatisch wenig, weniger als 9 Stunden pro Woche. Fast ein Drittel setzte 25 Stunden oder mehr pro Woche ein, zum Teil sogar mehr als im Schulalltag vor der Pandemie.

Aufgrund solcher Befunde ist auch Dagmar Rösler, Präsidentin des Lehrerverbands der Schweiz, überzeugt: «Die Schulschliessung hat die Unterschiede zwischen den Schülern vergrössert.» Was werden die Schweizer Staatsschulen vor dem Hintergrund der Corona-Erfahrungen nun tun? Wichtig bleibt für sie der Einsatz für eine weitreichende Chancengleichheit, besuchen doch in der Schweiz die allermeisten Kinder und Jugendlichen in den obligatorischen Schuljahren eine öffentliche Schule. Nur 4,6 Prozent weichen auf eine Privatschule aus.

Und für Jugendliche an der Schwelle zu Studium oder Berufseinstieg wurde die Zeit zur Herausforderung. Foto Keystone

Die bereits angelaufene Zukunftsdiskussion zu den Auswirkungen des Fernunterrichts verknüpft die Themen Chancengleichheit und Digitalisierung. Laut Dagmar Rösler stellt sich etwa die Frage: «Ist es die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass alle Schulkinder zuhause über die nötige, digitale Infrastruktur verfügen?» Auch über die Zukunft von Hausaufgaben müsse man nachdenken, denn da zeige sich Ähnliches wie beim Fernunterricht: «Bildungsnahe Eltern können ihren Kindern helfen, bildungsferne Eltern nicht.»

Die heutigen Schulkinder ihrerseits kümmern sich kaum um die Frage, wie die Corona-Pandemie die Schule der Zukunft prägen wird. Sie haben einen anderen Blick. Nach den Wochen zuhause besuchen sie inzwischen wieder ihre Schule – und lernen diese neu kennen. Viele tun dies durchaus freudig, weil ihnen zum Beispiel der Kontakt mit Gleichaltrigen sehr fehlte. Welche Folgen das Abenteuer «Corona-Schule» für sie hat, wird letztlich erst die Zukunft zeigen.

«Einige Kinder gewinnen in einer Krise, andere verlieren»

Der Fernunterricht wirkt sich möglicherweise auf die psychische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aus. Denn: «Es gibt Faktoren, die ein Kind widerstandsfähig machen und eine Krise gut bewältigen lassen», sagt Andrea Kramer, Psychotherapeutin und Dozentin der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Dazu gehöre etwa die Erfahrung der Kinder und Jugendlichen, dass sie neue Herausforderungen meistern können und sie über tragende soziale Beziehungen verfügen. Laut Andrea Kramer habe der Fernunterricht genau solche Erfahrungen bereit gehalten: «Sie konnten sich neue Kompetenzen aneignen, etwa in Bezug auf die Selbstorganisation, im Bereich des digitalen Lernens und sie haben geübt, wie man soziale Beziehungen auf Distanz pflegt.» Indes: Auch bei der Bewältigung einer Krise gibt es Unterschiede: «Es gibt Kinder, die während einer Krise nicht nur gewinnen, sondern viel verlieren. Wie viele Kinder die Krise gut bewältigt haben und wie viele Kinder beispielsweise auf Unterstützung durch Fachpersonen angewiesen sind, wird sich im Verlaufe der nächsten Monate zeigen», sagt Andrea Kramer.
 

 

Viele Jugendliche fürchten, keine ideale Lehrstelle zu finden

Die Corona-Pandemie erschwert den Schweizer Jugendlichen den Einstieg ins Berufsleben. In der Regel beginnen 60 von 100 Jugendlichen nach der Volksschule eine Berufslehre. Wegen des Lockdowns mussten aber alle Schnupperlehren abgesagt werden. Auch Vorstellungsgespräche waren kaum möglich. Zudem führten sehr viele Betriebe Kurzarbeit ein und sistierten die Besetzung von Stellen. In der Folge wurden weniger Lehrverträge abgeschlossen.

In der lateinischen Schweiz lag im Frühsommer die Zahl abgeschlossener Lehrverträge im Vergleich zu 2019 bei bloss 30 Prozent, auch in der Deutschschweiz lag der Wert unter jenem des Vorjahres. «Unsere grösste Sorge ist, dass Betriebe aus wirtschaftlichen Gründen plötzlich keine Lehrstellen mehr anbieten oder bestehende Verträge wieder auflösen», sagt Theo Ninck, Mitglied der Berufsbildungstaskforce des Bundes.

Im Juni äusserte sich das Staatssekretariat für Wirtschaft gleichwohl optimistisch: Der Lehrstellenmarkt sei insgesamt recht stabil.
 

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