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  • Kultur

Erfahrungen für die Bühne – und fürs Leben

13.01.2015 – Marianne Mühlemann

Sie sind begabt, zielorientiert und zwischen 15 und 18 Jahre jung. Und sie wollen nur das Eine: beim Prix de Lausanne gewinnen. Warum dieser Tanzwettbewerb Talente aus aller Welt magisch anzieht, und was es bedeutet, Profitänzer zu werden. Eine Spurensuche.

«O Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen!» Das sagte vor über 1600 Jahren der Theologe und Philosoph Augustinus. Sein Rat wird befolgt, der Mensch tanzt. Die Stile, die rund um den Globus gelehrt, gelernt und praktiziert werden, reichen vom Ausdruckstanz, Butoh, Modern Dance, Jazztanz, Rock ’n’ Roll, Hip-Hop, Step, Breakdance, Discodance, Tango, ­Oriental und Streetdance bis zum Volkstanz.

Für die jungen Tänzerinnen und Tänzer zwischen 15 und 18 Jahren, die sich jedes Jahr für den Schweizer Ballettwettbewerb Prix de Lausanne bewerben, ist tanzen mehr als ein Zeitvertreib. Diese Jugendlichen tanzen, weil sie spüren, dass Tanz ihre Berufung ist. Nicht Informatiker, Arzt oder Journalist wie andere wollen sie werden, für sie gibt es nur ein Ziel, ein Leben als Bühnentänzer. Sie haben sich für die anspruchsvollste aller Tanz­arten entschieden. Das klassische ­Ballett bietet als eigenständige Kunstform ein ausgeklügeltes System von Tanzschritten. Sie sind das A und O eines angehenden Berufstänzers. Wer sein Instrument, den Körper, im Ballett schult, schafft die perfekte Grundlage für die Kunst, Stimmungen und Gefühle mit reiner Bewegung auszudrücken. Doch da beginnt das Problem: Tanz ist eine flüchtige Kunst, es gibt keine Partituren wie in der Musik, keine Libretti wie im Theater. Tanz wird von Mensch zu Mensch weitergegeben und gelehrt.

Kurze Berufszeit

«O Mensch lerne tanzen!» Das ist leichter gesagt als getan. Bis ein junger Tänzer oben ankommt, ist der Weg steinig. Und die Konkurrenz ist gross. Wer Berufstänzer werden will, muss früh mit dem Tanzen beginnen, er muss ­regelmässig und äusserst diszipliniert – und auch richtig trainieren. Selbst für Tänzer, die alle körperlichen und mentalen Voraussetzungen mitbringen –  einen starken Willen, ein gutes Gedächtnis, Musikalität und Ausdauer haben –, gibt es keine ­Garantie, dass sie einmal als Solist auf der Bühne stehen. Und weil die Arbeit im «stillen Kämmerlein» einer Ballettschule stattfindet, kann in der Vorbereitung für diesen Beruf vieles falsch laufen. Bereits im Alter von zehn Jahren sollte ein Ballettschüler, der das Berufsziel Tänzer verfolgt, von einer privaten in eine professionelle Ballettschule wechseln. Diese Schulen gibt es jedoch nur in grossen Städten. Das heisst, viele dieser Kinder müssen das Elternhaus schon früh verlassen, nicht alle verfügen dann schon über das nötige Selbstbewusstsein. Zudem bringt die tänzerische Ausbildung eine Doppelbelastung: Die normale Schulausbildung muss neben dem täglichen Tanztraining bewältigt werden.

Auch später hört der Kampf nicht auf. Nach der Ausbildung beginnt die Suche nach einem Engagement in einer Company. Besonders schwierig ist dies für jene, die noch keine Bühnen­erfahrung haben. Und schliesslich: Der Tanzberuf kann nur kurz ausgeübt werden, mit spätestens 38 Jahren gehören Balletttänzer zum alten Eisen. In einem Alter, in dem andere den Zenit ihrer beruflichen Karriere noch nicht einmal erreicht haben, stehen Tänzer vor der Frage: Was nun?

Das Potenzial zählt

Einer, der die Situation und Probleme angehender Berufstänzer bestens kannte, war der Schweizer Industrielle Philippe Braunschweig (1928–2010). Der Erbe aus einer bekannten Schweizer Uhrmacher-Familie aus La Chaux-de-Fonds hatte Physik in Zürich ­studiert, dann ein internationales ­Familienunternehmen geleitet. Seine Leidenschaft aber galt dem Ballett. Er wollte die Lebens- und Karrieresituation junger ­Talente verbessern helfen. Und er wusste auch wie: Mit einem Förderwettbewerb. Zusammen mit seiner Frau, der russischen Ballerina Elvire Krémis, arbeitete er ein Konzept aus und gründete den Prix de Lausanne.

Der Wettbewerb wurde ein Meilenstein für die Ballettwelt. Bis heute zählt er zu den wichtigsten Sprungbrettern für die Karriere von Tänzerinnen und Tänzern. Philippe Braunschweig war der Meinung, dass die Erfahrungen, die Balletttänzer für die Bühne sammeln, Erfahrungen fürs Leben sind: Fähigkeiten wie Disziplin, Kreativität und Teamgeist seien auch in anderen Berufen von zentraler Bedeutung. Die Gesellschaft sollte dieses riesige Potenzial in den Tänzern nicht vernachlässigen. Natürlich gab es damals schon andere Ballettwettbewerbe. Jener im bulgarischen Varna zum Beispiel oder jener in Jackson, Mississippi. Doch diese richteten sich vorab an professionelle Tänzer, und ihre Preise waren eher Bestätigung für Erreichtes denn Förderung. Der Prix de Lausanne hatte zum Ziel, aus jungen, noch nicht fertig ausgebildeten Tänzerinnen und Tänzern jene auszuwählen, die das grösste tänzerisch-künstlerische Potenzial mitbringen. Als Gewinner des «Prix» sollten sie Ausbildungsstipendien für die besten Tanzschulen der Welt bekommen.

Die Idee kam gut an. Nicht nur zahlreiche Tanzschulen und Companys konnten als Partnerinstitutionen des Prix de Lausanne gewonnen werden, sondern auch zahlreiche Sponsoren. Heute arbeitet der Wettbewerb mit einem Budget von mehr als zwei Millionen Schweizer Franken. Und der Wettbewerb bleibt innovativ: 2015 wird erstmals über die Crowdfunding-Website ein zusätzliches Stipendium von 50 000 USD ausgelobt.

Doch nicht nur die Preise machen den Schweizer Tanzwettbewerb attraktiv. Die Intensivwoche – die mit dem öffentlich ausgetragenen Halbfinale und Finale mit Preisverleihung ihren Höhepunkt findet – bietet den jungen Tänzern aus aller Welt auch einen Vorteil, den andere Wettbewerbe nicht bieten. Durch den direkten Vergleich mit der Konkurrenz in der eigenen Altersgruppe ergibt sich für die jungen Tänzer hier oft die einzige Möglichkeit, frühzeitig zu erkennen, ob ihr Berufstraum realistisch ist und ob sie wirklich genügend Begabung, Persönlichkeit und Willensstärke für den Tanzberuf mitbringen, oder ob sie besser eine andere Ausbildung ins Auge fassen, anstatt die wichtigen ­Lebensjahre zwischen 16 und 20 ­damit zu verlieren, einer Illusion nachzu­jagen.

Mehr als ein Wettbewerb

1973 also wurde der «Prix» in Lausanne erstmals durchgeführt. Das Projekt stand unter einem guten Stern: Was damals am Lac Léman klein begann, ist bis heute stetig weiterentwickelt, modifiziert und professionalisiert worden. Beinahe wäre dem Prix de Lausanne der eigene Erfolg zum Verhängnis geworden. Die Zahl der Anmeldungen – insbesondere aus dem asiatischen Raum – explodierte. Waren es zum Auftakt gerade mal dreissig Tänzerinnen und Tänzer, die zum Wettbewerb antraten, meldeten sich wenige Jahre später bereits über zweihundert an. Für die aktuelle Ausgabe 2015 waren es 296 Kandidatinnen und Kandidaten aus 34 Ländern. Siebzig haben die Vorselektion (aufgrund eines von den Kandidaten eingesandten Videos) bestanden und werden im ­Februar nach Lausanne reisen.

Seit den Anfängen stand der Prix de Lausanne auch immer mal wieder in der Kritik. In jüngerer Zeit gab es teils harte Vorwürfe: Solche Leistungswettbewerbe seien eine Überforderung. Man würde grosse Unfallrisiken in Kauf nehmen und die jungen Mädchen in die Magersucht treiben. Die Leitung stellte sich den kritischen Stimmen. Seit 1999 ist der «Prix» mehr als bloss ein Wettbewerb. Während einer Woche bietet er ein Rahmenprogramm mit Workshops, Trainings und Seminaren zu wichtigen Gesundheitsfragen an. Diese Angebote können anders als früher alle Teilnehmenden besuchen, also auch jene, die es nicht bis ins Finale schaffen. Auch das macht den «Prix» attraktiv. Eine bereichernde Erfahrung für alle. So gesehen gibt es am Lac Léman nur Gewinner.


Marianne Mühlemann ist KulturRedaktorin beim «Bund» in Bern

Schweiz holt auf

Die 43. Ausgabe des Prix de Lausanne findet vom 1. bis 8. Februar 2015 im Palais de Beaulieu in Lausanne statt. Siebzig Tänzerinnen und Tänzer aus 18 Nationen haben sich qualifiziert. Dabei sind auch vier Kandidatinnen und ein Kandidat aus der Schweiz sowie die Auslandschweizerin Miko Fogarty aus Kalifornien. Die anderen jungen Tänzerinnen und Tänzer kommen aus Australien, Brasilien, China, Finnland, Frankreich, Ungarn, Italien, Japan, Holland, Norwegen, Portugal, Russland, Südkorea, Spanien, Ukraine, England und den USA. Jahrelang konnten sich aus der Schweiz keine Nachwuchstalente qualifizieren. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass der Schweiz die Balletttradition fehlt. Der klassische Tanz ist eine höfische Kunst, und die Schweiz war nie eine Monarchie, sie hatte weder eine Nationaloper noch eine nationale Ballettschule. Erst seit den Fünfzigerjahren wird Ballett in der Schweiz gepflegt. Der Nachwuchs wurde lange vorab von privaten Ballettschulen ausgebildet. Anders als in anderen Ländern war der Beruf des Bühnentänzers nicht offiziell anerkannt. Die Schweiz geriet so im internationalen Vergleich ins Hintertreffen. Seit Inkrafttreten des neuen Berufsbildungsgesetzes im Jahr 2004 und des revidierten Fachhochschulgesetzes in 2005 ist es dem Bund möglich, Berufe und Studiengänge im Bereich Kunst anzuerkennen. Heute hat die Schweiz mit der Tanz Akademie Zürich eine eigene professionelle Bildungsstätte für klassische Tänzer. Talente zwischen 11 und 19 Jahren werden hier auf die Laufbahn als Bühnentänzer vorbereitet. Ob sie es gegen die starke ausländische Konkurrenz in Lausanne bis ins Finale schaffen, wird sich zeigen.

Das Finale wird per Live-Stream live übertragen.

Infos, Blogs, Videos: www.prixdelausanne.org; Crowdfunding über: www.indiegogo.com

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    Nicole Locher Andrews 02.02.2015 At 16:28
    I enjoyed your article and learning of the "Prix". As a mother of an enthusiastic ballet dancer who was accepted into the Houston Ballet Academy this past year and as a Swiss-abroad citizen, it is nice to read that classical ballet is celebrated in Switzerland. I do like knowing that workshops are part of the competition week. One reason we agreed in allowing our daughter in accepting the spot at HBA was their policy on healthy dancers as opposed to anorexic ones. HBA's promotion of healthy athletes was refreshing.
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