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  • Literaturserie

Gertrud Wilker | Sie fand in Amerika die eigene deutsche Sprache

23.01.2020 – Charles Linsmayer

Kaum je sah eine Schweizerin die USA kritischer als Gertrud Wilker in den Jahren 1962/63.

«Geboten wird, eingepackt in die hypnotische Gläubigkeit an den Reklamesuperlativ, jede Spezies des best, largest. Ersäuft wirst du in Angeboten, Shampoo, Benzin, Rasierklingen, Kunstdünger. Grinsende beineschlenkernde prallbusige Plakatgirls machen die Strassen zu einem Spiessrutenlaufen zwischen künstlich geschürten, unstillbaren Gelüsten.» Die USA im Jahre 1962. Ein Staat, «dessen Land von den Städten und Strassen nur geritzt, keineswegs besiegt worden ist». Ein Staat, «der Erzfeind seiner Bevölkerung bleibt, den man nicht heftig, barbarisch und rücksichtslos genug bekämpfen kann, für dessen wilde Schönheit weder Erbarmen noch Liebe aufkommen dürfte, nur grimmige Entschlossenheit, sie auszunützen».

Es gibt auch Bewunderndes über Amerika in Gertrud Wilkers «Collages USA» von 1968. Aber unter den Eindrücken, die die 1924 geborene Berner Gymnasiallehrerin, als sie 1962/63 mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann in den USA lebte, festhielt, überwog das Kritisch-Despektierliche, und am Ende wusste sie, dass sie in Amerika nicht zuhause war und dass sie nicht da, sondern «in der alten Welt» «eine neue Zukunft antreten» wollte.

Deutsch in fremder Umgebung

Als Autorin aber brachte Amerika sie einen grossen Schritt weiter, war sie sich doch sicher: «Ich habe die deutsche Sprache hier noch einmal erlernt, bewusst, als ein Spiegelbild meines Lebensanteils, als Hort meiner Identität. Sie stellte mir meinen Namen, ein sprachlich fassbares Ich zur Verfügung, sie enthielt in dieser fremden Welt die Zusammenfassung meiner eigenen.»

So war es letztlich die Erfahrung Amerika, die Gertrud Wilker in die Lage versetzte, zwischen 1970 und 1985 elf Bücher vorzulegen und damit zu einer der angesehensten Schweizer Autorinnen ihrer Generation zu werden.

«Strahlensichere Wörter»

Wie meisterlich sie nun mit ihrem Deutsch umging, zeigte 1970 schon der Band «Einen Vater aus Wörtern machen», der viele ihrer besten Texte enthielt. Der 1971 publizierte Roman «Altläger bei kleinem Feuer» richtete dann den kritischen Blick auf ein Schweizer Dorf in den Zeiten der Hochkonjunktur. Ganz anders 1973 der legendenhafte Roman «Jota», dessen Titelfigur, ein eigenwilliges junges Mädchen, in einer Stadt wie Bern auftaucht und wieder verschwindet und den einen als Heilsgestalt und den andern als Ärgernis vorkommt. In der Erzählung «Flaschenpost» wiederum, die 1977 erschien, überlebt eine Frau mit 300 andern in einem Bunker einen Atomkrieg und hält in ihren Notizen, zentral für ihre Autorin, fest: «Obgleich ich persönliche Hoffnungen aufgab, hoffe ich für meine Wörter. Dass sie strahlensicher seien und das, was vor der Bodentüre zerstört wird, überdauert.»

Im Zeichen des Todes

1977 machte sich bei Gertrud Wilker ein Krebsleiden bemerkbar, dem sie am 25. Oktober 1984 nach langem Kampf mit sechzig Jahren erlag. Der Krankheit aber rang sie zwei Bücher ab, mit denen sie sich in die Annalen der Frauenbewegung einschrieb: «Blick auf meinesgleichen. 28 Frauengeschichten» von 1979, und «Nachleben», den Roman, mit dem sie 1980 ihrer verstorbenen Tante auf ergreifende Weise das im Titel versprochene Nachleben sicherte. Am Ende aber deuteten zwei Titel bereits ihr eigenes Nachleben an: der Lyrikband «Feststellungen für später» von 1981 und die Songsammlung «Leute ich lebe» von 1983. «Lieber, dir bring ich / zur Kenntnis», heisst es im Gedicht «Briefentwurf», «dass es leicht ging, mühelos, / durch die Luft zu fallen / in Vogelgestalt.»

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.

Zwei Jahre verliess mich das Bewusstsein nicht, dass ich in Amerika nicht zuhause sei, jedes Wort eine Übersetzung, alles steht an Stelle für etwas. Du bist kein Mitglied, kein Anwärter, du figurierst, du läufst nebenher. Gegenüber dem Gefälle nationaler Ärgernisse bleibt man unbetroffen, man lebt in der Vorform einer schrecklichen Freiheit, aber mit Genuss.

Aus «Collages USA», 1968

Bibliografie: Im Buchhandel erhältlich ist: Gertrud Wilker: «Elegie auf die Zukunft. Ein Lesebuch». Zusammengestellt von Beatrice EichmannLeutenegger und Charles Linsmayer. Reprinted by Huber Nr. 6. Verlag Th.Gut, Zürich.

 

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