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  • Politik

Der Panther

28.07.2014 – Matthias Daum

Bundesrat Alain Berset von der SP hat sich Grosses vorgenommen: Er will die Altersvorsorge reformieren, denn nur so ist sie langfristig sichergestellt. Seine beiden Vorgänger im Departement des Innern, Pascal Couchepin und Didier Burkhalter von der FDP, sind mit Reformvorschlägen kläglich gescheitert. Die Strategie von Alain Berset sei, warten, anschleichen und im richtigen Moment zuschlagen, schreibt Matthias Daum in seinem Porträt.

Alain Berset schweigt. Er gibt keine Interviews. Über das neue Impfgesetz, über das im vergangenen Jahr abgestimmt wurde, hätte man mit ihm zwar sprechen können, auch über 24 Monate lang gereiften Sbrinz-Käse, weil Berset der Schirmherr der herbstlichen Semaine du Goût ist. Nicht aber über sein grosses Projekt, die umfassende Reform der Altersvorsorge, darüber schweigt der SP-Bundesrat. Wortreich wimmelt sein Pressesprecher über Monate alle Gesprächsanfragen ab.

Alles Taktik, alles Strategie

«Wie ein Panther sitzt Alain Berset auf dem Baum auf der Lauer. Und wartet. Um im richtigen Moment zuzuschlagen.» So sagt es ein hoher Beamter in Bundesbern. Voller Ehrfurcht. Es war ein Mittwoch im November. Drei Uhr nachmittags. In Bern kündigt sich Schnee an. Alain Berset tritt in den grossen Saal im Medienzentrum des Bundeshauses und nimmt auf dem Podium Platz. Seine Postur verrät den ehemaligen Spitzenleichtathleten. Er hält ein fünf Zentimeter dickes Bündel A4-Blätter in die Luft, lächelt und sagt: «Was wir da anpacken müssen, ist nicht so einfach.»

Im Jahr 2030 klafft im AHV-Fonds ein Loch von 8,6 Milliarden Franken. Und die Pensionskassen erwirtschaften schon heute mit ihren Finanzanlagen immer niedrigere Renditen, mit denen sie immer längere ­Renten bezahlen müssen. Bis zu 110 Milliarden Franken sollen 2030 fehlen, schätzen Experten.

Es ist die grösste Schweizer Rentenreform seit 1985, als die berufliche Vorsorge (BVG) obligatorisch wurde. Und seither tut sich die Schweiz schwer mit dem Umbau ihrer Altersvorsorge. Vor bald zwanzig Jahren wurde die letzte AHV-Revision angenommen. Sie erhöhte das Rentenalter der Frauen schrittweise von 62 auf 64 Jahre. Alle weiteren Anpassungsversuche scheiterten. Zunächst lehnte das Volk 2004 das Rentenalter 65 für Frauen ab, sechs Jahre später verwarf es eine Senkung des sogenannten BVG-Umwandlungssatzes. Und das Parlament versenkte im gleichen Jahr eine abgespeckte Version dieser 11. AHV-Reform.

Nun wagt der Sozialminister den grossen Wurf: Er will die AHV und das BVG gemeinsam umbauen. Vor einem Jahr hat ­Berset sein Projekt angekündigt. Im November präsentierte er die Details: Das Rentenalter der Frauen wird innerhalb von sechs Jahren von 64 auf 65 erhöht. Der Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge wird über vier Jahre von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt. Gleichzeitig sind Rentenbezüge aus der Pensionskasse erst ab 62 möglich. Für Selbstständige und Angestellte gelten dieselben Beitragssätze. Für den AHV-Fonds gilt: Fällt der Stand unter 70 Prozent einer Jahresausschüttung, wird der Beitragssatz automatisch erhöht, und die Renten werden nicht mehr vollständig der Teuerung angepasst. Und weil trotzdem von 2030 an in der AHV ein Loch von 7,2 Milliarden Franken klaffen würde, soll die Mehrwertsteuer um bis zu zwei Prozent erhöht werden.

Stimmbürger als Verbündete

«Berset versucht einen spannenden Neuanfang», sagt der Politologe Claude Longchamp. «Er hat einen grossen Hut in die Mitte gelegt, und nun muss jeder etwas reingeben.» Die letzten Reformen scheiterten, weil es immer klare Sieger und klare Verlierer gab. Mal waren es die Frauen, mal die Alten, mal die Jungen. Es bildeten sich seltsame Allianzen; so waren 80 Prozent der SVP-Wähler gegen eine Senkung des BVG-Umwandlungssatzes, obschon die Gewerkschaften das Referendum ergriffen hatten. Nun sollen alle verlieren – und nur eine soll obsiegen: die Vernunft.

«Das mag vielleicht einige Politiker überfordern», sagt Berset. «Aber die Stimmbürger wissen, wie mit komplexen Themen umzugehen ist – das haben sie immer wieder bewiesen.» Dass die Altersvorsorge dem demografischen Wandel angepasst werden muss, ist allen Beteiligten bewusst. Sämtliche Szenarien zeigen, dass von 2020 an die mit den AHV-Geldern erwirtschafteten Kapitalgewinne die Renten nicht mehr finanzieren können. Aber kann einem ­SP-Bundesrat in einem grundbürgerlichen Land ein solches Monstervorhaben gelingen? Fragt man sich durch im politischen Bern, folgt die Gegenfrage auf dem Fuss: Wer, wenn nicht Berset, soll es richten? Die Bewunderung für den Strategen ist so gross, dass ihm Journalisten sogar seine Niederlagen als Siege auslegen.

Bestens vertraut mit dem Politbetrieb

Die Karriere von Alain Berset verlief im weichen Gang geschmeidig starker Schritte. Mit 27 Jahren wird er Freiburger Verfassungsrat, mit 31 Ständerat – und mit 39 Bundesrat. Der Freiburger gehört zu einer neuen Generation von Schweizer Politikern. Er ist ein Profi, kein Milizionär. Nach dem Ökonomiestudium an der Uni Neuenburg arbeitete er am Weltwirtschaftsinstitut in Hamburg, später in der Neuenburger Verwaltung, bevor er ein eigenes Beratungsbüro gründete. «Ein Bundesrat muss sehr genau wissen, wie unsere politischen Institutionen funktionieren», sagte Berset vor seiner Wahl in die Regierung. Vorsprung durch Erfahrung und Netzwerk – und dies im, für einen Bundesrat, zarten Alter von 41 Jahren.

So griff er zu, der linke Neuling, als der bürgerliche Didier Burkhalter nicht länger im Innendepartement, wie er selber sagte, um «sehr schwierige Fragen, über sehr technische Gesetzesartikel» kämpfen wollte. So hielt er, der Staatsgläubige, seine erste ­grosse Rede just am Arbeitgebertag. Geschrieben hatte sie ein ehemaliger Berater des damaligen Novartis-Chefs Daniel Vasella. Sie war brillant. «There is such a thing as ­society», sprach er, in Abgrenzung zu Maggie Thatchers neoliberalem Kampfspruch, den Bossen ins Gewissen.

Berset eröffnete sein Schachspiel mit einem Zug gegen die eigene linke Basis. Erhöhung des Rentenalters, Senkung des Umwandlungssatzes, automatische Anpassung der Renten, wenn der AHV-Fonds serbelt – das sind Handreichungen an die Bürgerlichen. Nur haben die das nicht verstanden. Der Arbeitgeberverband kritisiert, die Reform sei für die Wirtschaft nicht verkraftbar, die angedrohten Mehrwertsteuererhöhungen dürften nur «Ultima Ratio» sein. Der Gewerbeverband wettert, das Paket sei «eine Provokation». Er will stattdessen das Rentenalter vom Pegelstand im AHV-Fonds abhängig machen. Pensionäre wüssten also erst zwei Jahre im Voraus, ab wann sie eine volle Rente beziehen könnten.

Die Vernunft, auf die Berset setzt, verkriecht sich in die politischen Schützengräben. Noch fehlen dem Sozialminister die Verbündeten für sein Vorhaben. Sogar die Gewerkschaften und seine eigene Partei gehen zu ihm auf Distanz.

Die Zeit aber spielt für die Linke. Je näher das Jahr rückt, da die AHV tatsächlich in finanzielle Schieflage gerät, desto mehr Stimmbürger sind von möglichen Massnahmen betroffen – und desto schwerer haben es Sparvorschläge. Berset weiss um diesen Trumpf in seiner Hand. Als ihn ein Journalist fragt, ob er einen Plan B habe, antwortete der Bundesrat: «Dass die letzten Reformen gescheitert sind, lag daran, dass man immer noch einen Plan B in der Hinterhand hatte.» Kurzum: Das Monsterprojekt ist alternativlos.

Schnell ist gefährlich

Scheitert es trotzdem, droht ein riesiger Scherbenhaufen – und Alain Berset das Schicksal vieler seiner Vorgänger im Innendepartement: grosse Ankündigungen, keine Resultate. Ihn selbst scheint das nicht zu beunruhigen. Nach der Medienkonferenz spricht er noch ein paar Statements in die Mikrofone, dann zieht sich der Panther zurück auf seinen Baum. 

«Wer in der Schweiz politisch Tempo bolzt, der wird ausgebremst. Darum ist langsam schneller», sagte Berset in einer Rede. Aber er sagte auch: «Misstrauische Bürger trauen keiner Reform.» Und dazu brauche es eine öffentliche Debatte. Mit einem Bundesrat, der auf Bäumen sitzt, lässt sich schlecht debattieren. Ob er nun, da die Vernehmlassung zu seinem Reformvorhaben abgeschlossen ist, heruntersteigt, werden wir sehr bald sehen.

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