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  • Kultur

In einem Vorort von Bern steht ein einzigartiges Tonlabor

09.12.2022 – SUSANNE WENGER

Das «SE Musiclab» in der Nähe der Stadt Bern kultiviert das Hören auf ungeahnte Weise. Der Gründer und Erbauer Jürgen Strauss hat keinen Aufwand gescheut, um die Akustik voranzubringen. Besuch im neuen Audiouniversum in einer ehemaligen Brauerei.

Wer das «SE Musiclab» beim Bahnhof Wabern in der Agglogemeinde Köniz betritt, gelangt in eine grosse, sieben Meter hohe Halle. In dem Gebäude am Fusse des Berner Hausbergs Gurten füllte bis 1996 die Gurtenbrauerei Bierflaschen ab und stapelte die schweren Harassen. Derart geeignete Lokalitäten gebe es nicht viele, erzählt Musiclab-Initiant Jürgen Strauss. Der 57-jährige Berner war mit klaren Vorstellungen ans Werk gegangen. Er will erfahrbar machen, wie Musik und andere Töne unter optimalen Bedingungen klingen. Dafür musste die Räumlichkeit hoch genug sein und viel Flächenlast tragen können. Denn: «Um bestmögliche bauakustische Verhältnisse herzustellen, verbauten wir hundert Tonnen Material.»

Das hält nun jene Stelle in der Halle aus, wo ein Rundbau für ein fast schon spektakulär abgeschottetes Tonlabor errichtet wurde. Der Bau im Bau ist das Kernstück des Musiclabs: fünf Meter hoch, elf Meter breit, mit einer Doppelhülle aus 60 Tonnen Lehm und 40 Tonnen Holz. Die äussere Schicht, die aus 32 000 Lehmkugeln besteht, fertigte ein Roboter der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich ETH an. Drei Monate lang schuftete der Unermüdliche mit dem Greifarm, eine wissenschaftlich begleitete Bautechnik-Premiere. Die ganze aufwändige Konstruktion sorgt für ausgeprägte Ruhe im Inneren des Labors. Jürgen Strauss sagt: «Da ist es ruhiger als im ruhigsten Schweizer Bergtal, wenn dick Schnee liegt.»

Dreidimensionale Klangbilder

Kein Geräusch von aussen soll die Dämmung des Tonlabors durchdringen, auch nicht die vorbeibrausenden Züge. Deren Gleise hat die Bahn extra fürs Musiclab entkoppelt, weswegen auch keine Vibrationen via Boden die Klangwiedergabe beein­träch­ti­gen. Zu diesem Zweck steht der massige Bau zusätzlich auf Federn. Die organischen Aussenmaterialien Lehm und Holz sind innen mit modernster Audiotechnik und futuristischem Ambiente kombiniert. Weisse unterteilte Wände, gelbes Licht, Monitoren, Computer und Mischpult – in der schalldichten Kuppel kommt man sich wie in einer Raumkapsel vor.

«Die Hörerfahrung lässt niemanden kalt.»

Jürgen Strauss

Das in die Wände eingefügte Beschallungssystem nutzt 24 High­tech-Lautsprecher, die Jürgen Strauss selber entwickelt hat. Dafür ist er in der Fachwelt seit Jahren bekannt und angesehen. Die Lautsprecher sind rundherum eingebaut, so können dreidimensionale Klangbilder erzeugt werden. Das entspreche dem Alltagshören, hält Strauss fest: «Im Unterschied zum Sehen hören wir 360 Grad.» Durch den direkten Schall und dessen Reflexionen im Raum gewännen wir «einen Totalitätseindruck». Zugleich seien wir fähig, auf ein Ereignis zu fokussieren, etwa auf ein Gespräch, und andere Geräusche auszublenden. Was heute physikalischtechnisch im Lautsprecherbau machbar sei, wolle er im Lab umsetzen, bekräftigt Strauss.

Für Ensembles und E-Games

Nebst Elektronik und Bau unterstützt auch die Raumakustik die angestrebte Qualität. Der Raum ist so ausgestattet, dass alle Töne nur kurz und gleichmässig nachhallen. «Dadurch färbt die Raumantwort das Klangbild nicht», so Strauss. Nichts ist Zufall bei ihm. Die gelbe Beleuchtung wählte er, weil sie «klangfarben­neutral» Atmosphäre schaffe. Anders etwa als Rot, bei dem wir Klänge als warm empfänden. Hören ist eben vielschichtig. Am markantesten wird das Erlebnis, wenn man sich exakt in die Mitte des Labors setzt. Der Erbauer spielt jetzt Aufnahmen ab, von elektronischer Musik über Klassik bis 60er-Jahre-Folk. Der Schall umhüllt die Zuhörerin von allen Seiten, jeder Ton scheint fassbar. Angenehm geborgen fühlt man sich in der weiten weissen Kuppel und ist so konzentriert wie durchlässig.

Es seien schon Tränen geflossen, weiss Strauss: «Die Hörerfahrung lässt niemanden kalt.» Fachsprachlich nennt sich das eintauchende Erleben immersiv. Strauss sieht darin das Potenzial, Musikaufnahmen noch differenzierter zu machen, Hörspiele und Filmmusik noch packender, den Sound von E-Games noch plastischer. Das «SE Musiclab» steht für all das gegen Miete zur Verfügung. Es enthält auch ein sechs Meter hohes Aufnahmestudio. Dieses ist technisch mit dem Tonlabor verbunden und akustisch ebenfalls durchgestaltet, mit schrägen Wänden und versetzbaren Stoffrollos. Durch letztere können Bands und Ensembles ihre Klangbilder variieren.

Das von Jürgen Strauss, Hannes Oswald und Christoph Junk entworfene «One Person Cinema». Visualisierung: Raumgleiter AG

Haydns Originalakustik lebt auf

Noch in Entstehung befindet sich das dritte Element im Strauss’schen Audio­universum: ein Kino für eine Person. In einer schicken bootsähnlichen Box wird man ganz für sich allein Musik hören können, Filme schauen oder sich Videospielen widmen, aus Freude oder als Arbeitsplatz für Audioprofis. Jürgen Strauss entwickelt die Neuheit gemeinsam mit Architekten. Die Beziehungen zwischen Musik, Architektur und Raumakustik interessieren den Laborgründer besonders. Er arbeitet daran, Klangbilder ab architektonischen 3D-Plänen hörbar zu machen. Auralisation nennt sich die Technik, bei der eine Raumakustik digital simuliert wird und bei der Stimmen oder Instrumente hineinmontiert werden. Das Verfahren kann bei der Projektierung von Räumen eingesetzt werden, von Kultureinrichtungen bis zu Wohnungen. Aber auch, um die Akustik verloren gegangener Räume wiederherzustellen. So lässt das «SE Musiclab» derzeit das Opernhaus von Schloss Esterháza auferstehen, der Sommerresidenz der ungarischen Fürstenfamilie Esterházy. Dort brachte im 18. Jahrhundert Joseph Haydn als Hofkomponist viele Werke zur Aufführung. Das Musikhaus brannte 1779 ab, doch die Pläne sind erhalten. «Basierend darauf können wir das Haus rekonstruieren und nachher bei uns hörbar machen, wie es darin geklungen hat», erklärt Strauss. Auf die Resultate ist der Sinfonie-Liebhaber gespannt.

Im Inneren der schalldichten Kuppel sorgen 24 rundherum eingefügte Lautsprecher für packende Hörerlebnisse. Hier wird produziert und geforscht. Foto Roger Huber, ZVG

Das Musiclab soll ein Ort für Entwicklung und Produktionen sein, für Forschung, Lehrveranstaltungen und Teamevents. Gerade im Bereich der Psychoakustik – der Frage also, wie Menschen Klänge wahrnehmen – gebe es noch viel zu erforschen, sagt Strauss. Letzten Frühling eröffnet, findet das Akustikzentrum viel Beachtung. Laut Kennern ist es weltweit einzigartig. Strauss führt das Musiclab als Privater, finanziert über eine Aktiengesellschaft, an der er selber beteiligt ist, mit vier anderen Privaten aus der Region. Er spricht kenntnisreich, wirkt umtriebig und ambitioniert, aber auf eine lockere Art. Ihn treibe Hörlust an, sagt er: «Schon nur den Klang einer tiefen Saite finde ich als akustisches Ereignis enorm reizvoll.» Beim Hinhören entstehe eine eigene Welt.

Vom Physiklaboranten zum Audiopionier

Als gelernter Physiklaborant gründete Jürgen Strauss bereits in jungen Jahren ein Unternehmen für seine Audioelektronik. Heute beliefert und berät er internationale Kundschaft, zudem ist er Lehrbeauftragter an Schweizer Hochschulen. Er sucht nicht nur den perfekten Schallwandler, sondern vermittelt auch philosophisch-historische Zusammenhänge. Eine der Abbildungen beim Eingang des Musiclabs zeigt ein Gemälde von 1753. Es trägt den Titel «Die Dame mit der Vogelorgel». Dargestellt ist eine Frau in einem Salon, die eine mechanische Musikapparatur bedient und die Melodie einem Singvogel im Käfig vorspielt. In dem Bild sei alles drin, rühmt Strauss: Kultur, Natur, das Mensch-Maschinen-Verhältnis, die gegenseitigen Wechselwirkungen. «270 Jahre später befassen wir uns im Musiclab mit fortgeschrittener Technik, aber mit den gleichen Fragen.»

www.semusiclab.com

revue.link/musiclab

 

 

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